492
Heimfahrt
Stunde voneinander entfernt, noch zwei Dörfer: Potamia und Panagia. Von Potamia gelangt man auf einem der bösesten Wege der Insel in unzähligen Windungen hinauf zum Grat des Gebirges und hinunter in fünf Stunden nach Theologi, von Panagia aber in etwa einer Stunde nordwärts hinab nach Limenas. Jahrhundertelang war die Stätte der alten, stolzen Stadt zu einem unbedeutenden Landeplatz des Dorfes oben herabgesunken; jetzt ist Limenas wieder die Herrin geworden. In Panagia wohnt Christides, der Arzt, der Kenner der thasischen Altertümer und ihr Sammler, der Freund aller Archäologen seit A. Conzes Besuch im Jahre 1858. Ich sah ihn leider nicht, da er sich den ganzen Sommer in Konstantinopel aufhielt, um bei der Neuordnung der politischen Verhältnisse tätig zu sein. Durch prächtigen Hochwald steigt man rasch bergab zur alten Stadt des Herakles; vor ihr übten türkische Truppen und ließen — ein zu jener Zeit seltnes Schauspiel — sogar ihre Gewehre knattern.
Heimfahrt
Novelle von Luise Algenstaedt
as Städtchen Wolmiersz an der Kaiserstraße, die von Krakau südwärts zur Karpatenkette führt, war mit unruhigem Treiben erfüllt. Zwischen den dürftigen Lehmhäusern, auf den schmutzigen Höfen, auf dem kleinen ungepflegten Marktplatz wandelten, standen oder lagerten viele Gruppen von israelitischen Männern und Frauen. Sie trugen ! das Gewand der Armut und die Züge der Entbehrung, und doch waren sie nicht erwerbshalber gekommen — sie gingen müßig. Es war auch kein Feiertag, der sie zusammengeführt hatte; in ihrem Verhalten war nichts von der Beobachtung festlicher Gebräuche. Das Lesen in den Gebetbüchern, das stundenlange Streiten über religiöse Fragen, das hier und dort getrieben wurde, diente nur dazu, die unerwünschte Muße würdig auszufüllen. Denn sie warteten! Sie warteten darauf, daß sich die Haustür des berühmten Rabbi auftue, der Synagogendiener mit der Meldeliste auf die Stufen trete und die Namen derer aufrufe, denen der erbetene Zutritt zunächst gewährt werden sollte.
Des wundertätigen Mannes Haus lag wie ein Schlößchen zwischen den windschiefen Hütten, ihm gegenüber seine Privatsynagoge mit dem Gebetszimmer, worin er ebenfalls zuweilen Bittsteller empfing.
Man mußte an ihm rühmen, daß er in der Reihenfolge strenge Gerechtigkeit walten ließ und die vereinzelten wohlhabendem Leute, die im Gasthause Wohnung genommen hatten, unter keinen Umständen früher vorließ, als es der Zeitpunkt ihrer Anmeldung forderte. Gewinnsucht bewegte ihn nicht; er nahm grundsätzlich weder von Arm noch Reich Geld für seine Hilfe. Die Dankbarkeit mußte auf andre Mittel und Wege sinnen, sich zu bekunden. Auf solchen aber kam ihm seine Gattin, die Rebbezin, entgegen, die ein feines Verständnis für das tiefiunere Bedürfnis des Juden hatte, in Leistung und Gegenleistung zu leben. Sie gingen der Erhörung gewisser heim, wenn sie sich sagen konnten, daß sie ein Kälbchen oder ein Sch"f in den Stall seines Hofes hineingeführt hatten, während doch ein Huhn ihre Mittel schon weit überstiegen hätte. Dem Zaddik viel geben ist eine heilige Tat — Z» seiner Erhaltung beitragen auch eiue Wohltat au deu Volksgenossen.