Die vier
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Acht Tage währte dieser Zustand der Bewußtlosigkeit, acht furchtbare Tage für die Eltern, die sich abwechselnd in die Pflege des Kleinen teilten; am neunten Tage schwand das Fieber gänzlich, und die Besinnung kehrte zurück. Die Mutter saß am Bette des Kindes, das in leichten Schlummer gefallen war, und sah auf das bleiche eingefallne Gesicht, das nicht mehr durch die Fieberhitze einen trügerischen Schein von Frische besaß, als die Augenwimpern zu zucken anfingen, und der Knabe Plötzlich mit Hellem Blick seine Mutter anschaute. Ein Lächeln glitt über seine Züge, als er seine Pflegerin erkannte.
Mudding, flüsterte er und griff nach ihrer Hand, die er zärtlich drückte.
Mein Helmut! rief die Mutter und küßte seine Stirn, indem ihr die Tränen über die Wangen liefen.
Wo war ich denn, Mudding? Bin ich krank? fragte der Knabe.
Ja, mein Herzlieb, du warst sehr krank und bist es noch; darum sprich jetzt nicht, bis es der Herr Doktor erlaubt.
Sie ordnete ihm die Kissen, gab ihm einen Schluck Limonade, den er gierig einsog, und dann lag er still in seinem Bette, den Blick unverwandt mit dem zärtlichsten Ausdrucke ans das Gesicht der Mntter geheftet.
Die Eltern freuteu sich über den Zustand des Knaben. Denn das furchtbare Fieber war ja gewichen, und wenn es nicht wiederkehrte, war Aussicht vorhanden, daß ihr Kind genäse. Allein als der Arzt kam, stimmte er durchaus nicht in die Freude ein. Er fühlte mit der Hand die Stirn des Kleinen, und diese wie der klare Blick des Auges bewies, daß das Fieber geschwunden sei; allein er nahm lange des Knaben Hand in die seine, indem er den Puls fühlte. Dabei wurden seiue Mienen immer ernster, und endlich ging er in das Nebenzimmer, indem er den: Professor winkte, ihm zu folgen.
Was ich diese ganze Zeit über gefürchtet habe, scheint eingetreten zu sein. Die furchtbare Fiebererrcgnng hat eine Herzaffektion zur Folge gehabt, die, wenn nicht ein Wnnder geschieht, zum Tode führen muß. Ich fühle kaum noch den Pulsschlag. Laß sofort dies Rezept besorgen, fuhr er fort, indem er rasch einige Worte auf ein Formular schrieb. Ich verordne (li^itM« in starker Dosis. Am Nachmittage werde ich wiederkomme».
Als der Professor ins Krankenzimmer trat, zog ihn seine Frau in eine Ecke uud verlangte zu wissen, was der Arzt gesagt habe. Zögernd und leise, damit ja Helmut nichts höre, teilte er ihr des Arztes schlimme Diagnose mit. Aber wie leise er auch gesprochen, das Ohr des Knaben schien etwas von den Worten gehört AU haben, und sein Blick ersah ans den bestürzten Mienen und den Tränen der Mutter, die ihr unaufhaltsam aus den Angen brachen, um was es sich handle, nnd plötzlich fragte er: Muß ich sterben, lieber Vater?
Die Frage kam so unerwartet und erschreckte den, an den sie gerichtet war, daß es war, als würge thu jemand. Er war nicht imstande zu antworten, sondern streichelte nur zärtlich seines Knaben Wange, indem dicke Zähren auf das Bett fielen.
Auch den Knaben schien der Gedanke, Abschied nehmen zu müssen, tief zu bewegen; denn auch er hatte Tränen im Ange, und er schluckte beständig, um nicht laut weinen zu müssen. Aber es war nicht die Trennung von den geliebten Eltern, die ihn zunächst zu beschäftigen schien, denn er fragte: Vater, kann ich cmch mit einer Vier in den Himmel kommen?
Wie vom Schlage getroffen sank bei diesen Worten der starke Mann auf die Knie, vergrub sein Gesicht in dem Bette des Kindes und weinte bitterlich. Was hätte er in diesem Augenblick gegeben, wenn er das Geschehene hätte ungeschehen Grenzboten II 1909 52