Maßgebliches und Unmaßgebliches
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Beamten, die ihr Urteil nicht direkt von der Kreuzzeitung oder der Deutschen Tageszeitung abhängig machen — es gibt ja freilich auch solche —, die Vertreter des städtischen Mittelstandes, soweit sie aufgeklärt worden sind, selbst die Landwirte in den Gegenden, in denen die verschiednen Erwerbsgruppen weniger kastenartig abgeschlossen, vielmehr durch regere gegenseitige Beziehungen miteinander verbunden und aufeinander angewiesen sind, die darum weniger aus wirtschaftlichem Sonderinteresse als aus Prinzip konservativ sind — im Königreich Sachsen, in Thüringen, in Süddeutschland —, alle diese Konservativen sehen mit wachsendem Mißbehagen auf die Methoden und die Mittel, mit denen die Führung der Gescimtpartet entgegen allen Traditionen die ihrer Meinung entgegenstehenden Staatsinteressen nicht sorgfältig abwägt und prüft, sondern rücksichtslos beiseite stößt. Während es sonst die Stärke und der Stolz der konservativen Partei war, dem Doktrinarismus der Liberalen einen mitunter brutal wirkenden Sinn für das Wirkliche, dem demokratischen Radikalismus einen von den Gegnern oft rückständig gescholtnen, auch in der Tat oft engherzigen, aber immer ehrlichen Instinkt für die Staatsraison entgegenzusetzen, unterscheiden sich heute die Methoden der konservativen Partei in nichts mehr grundsätzlich von denen der Sozialdemokratie. Vor allem begegnen wir darin derselben UnWahrhaftigkeit und Hinterhältigkeit. Das könnte vielleicht weniger eine Eigentümlichkeit der Partei als ein Zeichen der Zeit, eine Krankheit des heutigen Parteilebens überhaupt sein. Aber wir können unmöglich glauben, daß die konservativen Kreise im Lande von dieser Zeitkrankheit so sehr angesteckt sein sollten, wie es nach den Kundgebungen der offiziellen Parteiorgane angenommen werden müßte. In diesen Kreisen überwiegen doch zu sehr die guten Patrioten, die nüchternen Köpfe, als daß sie dauernd bei einer Ansicht verharren könnten, die nur durch Verheimlichung und Entstellung der Wahrheit möglich ist. Es fehlte schon längst nicht an Anzeichen, daß diese unsre Meinung durch die Wirklichkeit bestätigt wird. Wir erinnern hier nochmals an die Haltung der sächsischen Konservativen, auch der in Württemberg und Thüringen, an zahlreiche kleinere konservative Lokalvereine und Verbände, die durch hochmütige Abfertigungen von der Deutschen Tageszeitung nicht aus der Welt geschafft werden können. Wir erinnern ferner an die Fahnenflucht sehr tüchtiger und überzeugungstreuer Mitglieder aus den konservativen Vereinen. Jetzt lesen wir auch in den Berliner Neuesten Nachrichten eine charakteristische Zuschrift aus Ostpreußen, in der es unter cmderm heißt:
„Bei dem, wie es scheint, schier unüberwindlichen Widerstände, den der Erbanfallsteuer von neuem innerhalb des Blocks lediglich die Hochagrarier entgegensetzen, Wird es eine große Überraschung hervorrufen, wenn ich behaupten und erklären darf, daß der agrarische Osten die Erbanfallsteuer will. Nur verstehe man hier unter agrarischem Osten nicht die Mandel konservativer Reichstagsabgeordneter aus Ost- und Westprenßen, sondern die konservativ-agrarische Wählerschaft. Ich bin in den letzten Wochen mit Hunderten von konservativen Landwirten zusammengekommen, die durchweg keine Ahnung hatten von der Steuerfreiheit des Besitzes bis zn 20000 Mark, von der steuerlichen Feststellung des ländlichen Besitzwerts durch öffentliche Kreditinstitute, deren Taxen den Besitz nur bis zu etwa 60 vom Hundert seines Verkaufswerts ergreifen und last not Isast von der Erleichterung der Steuerzahlung in Raten durch zwanzig Jahre. Eine oft starke Erbitterung bemächtigt sich der Landwirte, wenn sie gewahren, daß ihnen alles für sie wesentliche bezüglich der erweiterten Erbschaftssteuer von feiten der konservativ-bündlerischen Redner und Zeitungen nicht gesagt worden ist. — Hätten die liberalen Parteien jetzt die Mittel und die Kräste, eine intensive Ausktärungsarbeit in Ost- und Westpreußen leisten zu lassen, die Provinzen würden dem Konservatismus verloren gehen.