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Politische Erziehung und Finanzreform
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politische Erziehung und Linanzreform

Beginn der Versammlung war auf 31/4 Uhr angesetzt; schon um 7 Uhr wurden die Türen wegen Überfüllung geschlossen; auf der Straße staute sich die Menge derer, die vergebens Einlaß suchten; als endlich Professor Delbrück die Losung ausgab, nach einem andern größern Saale zu ziehn, da flutete die Menschenmenge in breitem Strom unter Jubeln und Hüteschwenken durch die Straßen des Berliner Westens. Wirklich, es war ein eigenartiges, denk­würdiges, seltnes, man möchte fast sagen: wunderbares Schauspiel: Be­geisterung für Steuern! Und das Wunder läßt sich nur daraus erklären, daß sich eben im deutschen Volke schon die Empfindung festgesetzt hat: auch hier steht eine der großen nationalen Lebensfragen auf dem Spiel; es ge­nügt nicht, die Flinte zu tragen, wir müssen sie auch bezahlen; zu unsrer militärischen Rüstung muß die finanzielle Rüstung treten; nur durch Gewehre und Geld ist die Macht eines Staats gesichert.

2. Das zweite Element des politischen Sinnes aber ist Wirklichkeits­bewußtsein. Politik ist nach Bismarcks prächtigem Wort die Lehre vom Möglichen; nur Realpolitik verdient den Namen Politik, das heißt Staats­kunst; Doktrinarismus und Prinzipienreiterei sind Todfeinde des politischen Sinns. Wieviel Doktrinarismus aber schleppen wir Deutschen noch mit uns mit! Und gerade die Geschichte unsers Finanzwesens gibt uns dafür lehrreiche Beispiele.

Der ganze Jammer der heutigen Fiuanznot geht letzten Endes zurück auf die berüchtigte Franckensteinsche Klausel.*) Ihre Bedeutung liegt darin, daß sie das Reich künstlich hinderte, die ihm eben neu erschlossenen Einnahme­quellen voll auszunutzen, und es zwang, einen großen Teil der Erträgnisse an die Einzelstaaten abzuliefern, die ihrerseits in jenen fetten Jahren kaum wußten, was sie mit dem Goldsegen anfangen sollten. Und weshalb diese künstliche Unterernährung des Reichs? Der Reichstag wollte sein sogenanntes Einnahmebewilligungsrecht nicht geschmälert sehen, ein Recht rein formaler Natur, ein Recht ohne jeden materiellen Inhalt, ein bloßes Scheinrecht, das als wirkliches Recht neben dem tatsächlich vorhcmdnen Ausgabebewilligungs­recht des Reichstags gar keinen Platz und gar keinen Sinn haben würde. Um nicht durch Verzicht oder Einschränkung eines solchen Scheinrechts die Bedeutung des Reichstags zu mindern, deshalb die unglückselige Klausel, die materiell die Finanzkraft des Reichs schwächte und in formeller Hinsicht in unsre Finanzverfassung eine Unklarheit und Verworrenheit und Unübersicht­lichkeit hineingebracht hat, wie sie die raffinierteste Bosheit nicht schlimmer hätte ausklügeln können.

Und jetzt wieder der Doktrinarismus bei der Frage der Nachlaßsteuer! Weshalb lehnt man die Steuer ab? Etwa deswegen, weil sie bestimmte, für

*) Vgl. die lehrreichen Berechnungen bei van der Borght, Die Entwicklung der Reichs­finanzen (Leipzig, 1908), S. 126. 127.