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politische Erziehung und Finanzreform
Oder liegt der Grund etwa darin, daß wir die Frage nicht lösen können, daß wir zu arm sind, dem Reiche zu geben, was das Reich braucht? Aber man würde sich lächerlich machen, wenn man derartiges behaupten wollte. Deutschland hat im letzten Menschenalter einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, wie er in der Geschichte selten ist — einen Aufschwung, den das Ausland nur mit Bewunderung betrachtet, und wäre diese Bewunderung auch bloß eine mit Neid und Haß gemischte, ich möchte sagen: knirschende Bewunderung. Die deutsche Industrie hat trotz der gewaltigen sozialpolitischen Lasten, die ihr zugunsten der Arbeiter auferlegt worden waren, die englische Industrie, die vor einem Menschenalter unerreicht dastand, in mehr als einer Beziehung geschlagen. Das deutsche Volksvermögen hat das Vermögen des reichen Rentnerstaates Frankreich schon überholt und das britische jedenfalls erreicht.*) Gegenüber solchen Tatsachen wäre es widersinnig, wenn man behaupten wollte, wir könnten der Finanznot nicht Herr werden.
Aber worin liegt denn nun der wahre Grund, daß wir ihrer doch noch nicht Herr geworden sind? Nun, der Grund liegt nicht darin, daß wir die Frage nicht zu lösen brauchen; er liegt auch nicht darin, daß wir die Frage nicht lösen können; er liegt einzig und allein darin, daß wir sie noch nicht ernstlich genug lösen wollen. Treffend hat Professor Köppe**) schon darauf hingewiesen, daß die größten Schwierigkeiten für die Gesundung unsers Finanzwesens in psychologischen Momenten liegen. Wir haben eben — und ich werde darauf nachher eingehender zurückkommen — zu wenig Verständnis für das Wesen und die Bedürfnisse des Staats und für die staatlichen Notwendigkeiten; noch steht für viele die Partei über dem Vaterland, und der Parteigeist ist in ihnen stärker als die nationale Gesinnung; noch überwuchert bei vielen der Doktrinarismus und die Prinzipienreiterei die nüchterne realpolitische Auffassung.
So zeigt uns ein Rückblick auf die Geschichte der Finanzreformbestrebungen von 1909 an einem lehrreichen Beispiel die Notwendigkeit politischer Erziehung
des deutschen Volks.
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Nur an einem Beispiel! Denn diese Notwendigkeit selbst hat eine viel allgemeinere Grundlage.
1. Der moderne Staat ist gegründet auf den Gedanken der allgemeinen nationalen Wehrpflicht.
*) Nach den Schätzungen von Steinmann-Bucher „350 Milliarden deutsches Volksvermögen" «Berlin, 1909) soll sich sogar auch hier ein Überschuß von fünfzig Milliarden zugunsten Deutschlands ergeben. Doch wird man die Schätzung dieses Schriftstellers über das deutsche Vermögen wohl uni fünfzig Milliarden kürzen müssen, da der Bodenwert von ihm zu hoch angenommen sein dürfte; in den übrigen Positionen seiner Aufstellung dagegen liegt meines Erachtens kein Anlaß zu wesentlichen Kürzungen vor.
**) In seiner Schrift: Am Vorabend der neuen Reichsfinanzreform (Leipzig, 1908), S. 10 f.