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Maßgebliches und Unmaßgebliches
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel Berlin, 26, April 1909
(Znr Reichsfinanzreform: Die Ansprache des Reichskanzlers. Der konservative Antrag auf eine Wertzuwachssteuer. — Die Lage im Orient.)
Unmittelbar nach der Rückkehr von der Reise hat der Reichskanzler einer Anzahl von Abordnungen einen gemeinsamen Empfang gewährt. Diese Abordnungen waren die Wortführer zahlreicher Kreise, die mit Ungeduld einer Lösung der Aufgaben der Reichsfinanzreform entgegensehen, und die über die Art, wie der Reichstag bisher diese Fragen behandelt hat, lebhaftes Mißbehagen, das sich hier und da zum Unwillen und zur Entrüstung steigert, empfinden. Die Tatsache, daß eine Bewegung durch das Land geht, die aus einer solchen Stimmung heraus den Volksvertretern znr endlichen Erreichung des Zieles den Rücken starten will, kann nicht gut abgeleugnet werden, aber sie ist natürlich den Parteien, die immer noch möglichst viel für sich selbst dabei retten wollen, im höchsten Grade unbequem. Es ist gewiß außerordentlich schwer, die Stärke einer solchen Bewegung, die niemals ganz klar znm Ausdruck kommt, richtig abzuschätzen, aber daß die Parteipresse nicht ohne weiteres als Ausdruck der in den Wählerkreisen herrschenden Stimmungen anzusehen ist, liegt auf der Hand. Denn diese Organe sind im ganzen mehr die Werkzeuge, wodurch die Führer der Parteien auf die öffentliche Meinung ihrer Kreise zu wirken suchen, als die Sprachrohre dieser öffentlichen Meinung selbst. Es fehlt nirgends an gewichtigen Zeugnissen, daß in allen Kreisen des Volkes ein sehr lebhaftes Verständnis für die Nachteile des unfruchtbaren Hin- und Herzerrens der zu lösenden Probleme vorhanden ist. Man ärgert sich, wenn über nichts andres, so doch schon darüber, daß die Sache nicht vorwärtskommt. Man will Gewißheit haben, was denn nnn eigentlich werden soll, welche Lasten übernommen werden müssen, wie man sich einzurichten hat. Bei der Empfindlichkeit des heutigen Geschäftslebens, aber auch — wie man hinzufügen muß — seiner Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit ist der unangenehmste Zustand die Ungewißheit. Denn es gibt immer Anskuuftsmittel, um irgendeinen unvermeidlichen Druck erträglich zu gestalten, aber solange man einer noch uugewissen Gestaltung gegenübersteht, bleiben nur die vielen kleinen, unberechenbaren Rückwirkungen übrig, die aus der Ungewißheit entspringen. Aber auch abgesehen davon fehlt es dem gesunden Sinne weiter Vvlkskreise nicht an Verständnis für das unwürdige Schauspiel, das ihnen in den bisherigen Beratungen geboten worden ist. Daß die einzelnen Vorschläge gewissenhaft und dem entsprechend auch mit einem gewissen Zeitaufwande geprüft werden, könnte ja au sich hingehn; was verletzend wirkt, ist das Fehlen jeder Tendenz zur Verständigung, das skrupellose und rücksichtslose Bestreben der Parteien, ihre Meinung durchzusetzen, ohne daran zu deuken, daß die Größe und die Eigenart der Aufgabe von vornherein Überzeugungsopfer vou allen Beteiligten fordert. Und dieses unwürdige, widerwärtige Feilschen um kleine Parteivorteile in einer großen Lebensfrage des Reichs, bei einer Aufgabe, auf dereu Scheitern das Ausland voll Schadenfreude wartet! Wir Deutschen wissen ja allerdings, daß das Reich nicht untergehn würde, wenn es auch nicht glücken sollte, eine völlig befriedigende Lösung zu erreichen. Aber daß ein solcher unglücklicher Ansgang eine schlimme moralische Niederlage für Deutschland bedeuten würde, darüber sind glücklicherweise weite Kreise des deutschen Volkes nicht im unklarcn, und es ist notwendig, daß das auch zum Ausdruck kommt.