Maßgebliches und Unmaßgebliches
195
genommen hatte — wo die Zentralgewalt ihre Ohnmacht gegenüber den tausend Regungen der von moderner Kultur und modernem Verkehr beeinflußten Kräfte durch Spionage und andre demoralisierende Mittel auszugleichen suchte —, seine Rolle vollständig ausgespielt hatte, davon konnte man nach der Art, wie sich die Umwälzung vollzogen hatte, wohl überzeugt sein. Ob aber mit den Gebrechen des alten Systems auch alle religiösen Traditionen und alle aus dieser religiösen Tradition geschöpften Rechtsbegriffe, die aus dem innersten Wesen des Orients geboren sind, und mit denen das ganze Leben des Orients seit nahezu dreizehn Jahrhunderten verquickt ist, mit einemmal dahinschwinden würden wie der Schnee unter den Strahlen der Frühlingssonne, das war doch sehr fraglich, wenn auch die Zuversicht des zur Herrschaft gelangten Jungtürkentums das Selbstbewußtsein der europäischen Kultnrwelt in der Neigung, diese Entwicklung für selbstverständlich zu halten, bestärken mochte. Jetzt hat sich nun doch herausgestellt, daß die Jungtürken die soeben bezeichneten Kräfte, die sich die Fehler des neuen Regiments, seine gelegentlichen Verstöße gegen die korrekte Handhabung der Verfassung und seine Nichtachtung der eingewurzelten religiösen Vorstellungen zunutze gemacht und in der Stille ihre Minierarbeit getrieben haben, erst niederkämpfen müssen. Mit welchen Mitteln das geschehen wird, ist in dem Augenblick, wo diese Zeilen geschrieben werden, noch unklar. Die Gegner der Jungtürken haben natürlich, ohne die Verfassung zu beseitigen, doch die persönliche Autorität des Sultans wieder in den Vordergrund gebracht. Das war zunächst eine natürliche Folge der Ereignisse selbst. Wer die Wiederherstellung des „Scheria" — der aus dem Koran und der religiösen Tradition entnommnen Rechtssätze — forderte, der konnte auch den Kalifen nicht übergehn. Die Jungtürken beschuldigen deshalb den Sultan, den Putsch veranlaßt zu haben; es gibt indessen noch keine sichern Anhaltepunkte dafür, wie weit der Sultan seine Hand im Spiele gehabt hat. Man sieht aber, wie unsicher und unberechenbar das alles noch ist, und wie unmöglich es ist, daß diese innern Kämpfe, die eine spezifische und dabei in ihrem Verlauf gar nicht zu übersehende Lebensäußeruug der orientalischen Welt sind, etwa durch europäische Einflüsse mit bewußter Absicht hervorgerufen sein könnten.
Trotzdem ist es behauptet worden. Auch denen, die es zufällig nicht in der Zeitung gelesen haben sollten, braucht man kaum noch erläuternd zu sagen, daß in der englischen und russischen Presse Deutschland beschuldigt wird, den Sultan und die Vertreter des alten Regime zu ihrem Anschlag gegen die Jnngtürken angestiftet zu haben; die Auffassung, daß Deutschlands gute Beziehungen zur Türkei lediglich den Charakter persönlicher Freundschaft für Sultan Abdul Hamid tragen und im Grunde der Vorliebe der deutschen Regierung für jede Art von Despotismus und Tyrannei entspringen, gehört ja bekanntlich zu dem eisernen Bestand dieser Art von Presse bei ihren Urteilen über die Weltlage und die deutsche Politik. Von dieser Darstellung hebt sich dann namentlich die Selbstbespiegelung Englands als eines Schützers der Freiheit in der ganzen Welt besonders wirkungsvoll ab. Leider sind unsre lieben Freunde im Auslande diesmal nicht die allein Schuldigen. Auch unsre Anglophoben haben glücklich herausgefunden, daß die Wirren in der Türkei von England gemacht worden seien, damit sich Deutschland seiner Erfolge in der österreichisch-serbischen Streitfrage nicht freuen könne, Rußland aber durch neu- entstandne Schwierigkeiten auf der Balkanhalbinsel — wobei man das Eingreifen Bulgariens in Rechnung stellt — Gelegenheit zur Einmischung erhalte und sich England für diesen Liebesdienst desto sester verbunden erachte. Nun ist es zwar eine sehr schöne Sache um scharfsinnige Kombinationen, durch die kluge Leute dem schwerfälligern Geist der in die Jrrgänge der Diplomatie nicht Eingeweihten aufhelfen wollen, aber diesmal fehlt uns denn doch solcher Botschaft gegenüber ganz und gar der Glaube. Die Gründe haben wir schon auseinandergesetzt, aber wir müssen ihnen auch das Bedauern hinzufügen, daß einige deutsche Stimmen der