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Maßgebliches und Unmaßgebliches
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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Maßgebliches und Unmaßgebliches

Reichsspiegel Berlin, 19. April 1909

(Die neuen Wirren in der Türkei. Die auswärtige Lage. Fürst Bülow und Tittoni. Der Kampf um die Reichsfinanzreform.)

Mitten in den Nöten, die uns die Reichsfinanzreform verursacht, sonnte sich unsre öffentliche Meinung eine Zeit lang in den wärmenden Strahlen, die die Erfolge unsrer auswärtigen Politik über uns ausgegossen haben. Aber auch in der politischen Jahreszeit herrscht gegenwärtig Aprilwetter. Kaum hat sich der gute deutsche Philister nach langem Mißvergnügen einmal wieder behaglich dehnen und in die Brust werfen können, so verkriecht sich die Sonne schon wieder hinter einer dicken, dunkeln Wolkenwand. Die neuen Wirren in der Türkei haben einmal wieder die Illusionen zerstört und gezeigt, daß der Zündstoff noch immer daliegt. Es braucht nur ein Funke hineinzufallen, und die große Feuersbruust ist da, die man doch eben noch auf lange Zeit verhütet zu haben glaubte.

Es würde ganz und gar verfrüht sein, schon jetzt über die Tragweite der Ereignisse in Konstantinopel ein Urteil zu fällen. Augenblicklich gibt es wohl nur verschwindend wenige Europäer, die auch nur annähernd mit Sicherheit sagen können, was diese Vorgänge in Wirklichkeit zu bedeuten haben. Für die unbe­teiligte politische Welt ist zunächst nur sichtbar, daß das jnngtürkische Komitee zurzeit aus der Rolle einer unverantwortlichen Nebenregierung verdrängt worden ist, daß der Sultan die Macht zurückgewonnen hat, die er unter normalen Ver­hältnissen nach der Verfassung eigentlich haben sollte, aber nach der unblutigen Revolution, die das absolute Regiment brach, dem jungtürkischen Komitee tatsächlich überlassen mußte. Wir wissen ferner, daß der Sultan den Schutz der Verfassung zugesagt hat, und daß auch, abgesehen von den persönlichen Absichten des Sultans, an eine wirkliche oder gar dauernde Wiederkehr des alten Regiments von den einflußreichen Türken und den Kennern der Türkei niemand glaubte. Darüber hinaus kann man keine bestimmten Ansichten äußern, ohne den Boden der be­glaubigten Tatsachen zu verlassen und das Gebiet der subjektiven Meinungen, der Vermutungen und Kombinationen zu betreten. Das jungtürkische Komitee, das scheinbar gestürzt und zersprengt war, hat es verstanden, die Korps von Saloniki und Adrianopel zu seinen Gunsten in Bewegung zu setzen, sodaß jetzt vor Kon­stantinopel eine ansehnliche Truppenmacht steht, die die neue Regierung nicht an­erkennt. Was sich daraus weiter ergeben wird, kann in diesem Augenblick un­möglich vorausgesagt werden. Es ist auch nicht unsre Aufgabe, au dieser Stelle auf die Einzelheiten der Vorgänge in der Türkei einzugehn; hier kommt nur in Betracht, welche Rückwirkungen diese Ereignisse auf die deutsche Politik haben können, und wie sich die Lage des Deutschen Reichs unter diesen Umstünden gestaltet.

Da wird man vor allem eins beachten müssen. Wie man auch das in Konstantinopel Geschehene deuten und was für Folgen man ihm auch zuschreiben mag, darüber kann doch niemand, der nur einmal versucht hat, von dem Leben und der Weltanschauung des Orients eine Vorstellung zu gewinnen, im Zweifel fein, daß wir es hier mit einer Bewegung zu tun haben, die unmittelbar aus den besondern Verhältnissen der türkischen Welt heraus entstanden ist. Es ist ganz ausgeschlossen, daß irgendwelche außerhalb der Verhältnisse liegenden Ursachen dabei im Spiel gewesen sind. Die Kräfte, die dabei in Bewegung gesetzt worden sind, gehorchen keinen Einwirkungen von außen. Dagegen wäre es sehr merkwürdig und kaum zu erklären gewesen, wenn die jungtürkische Bewegung gar keinen aus den religiösen Traditionen entspringenden Widerstand zu überwinden gehabt hätte. Daß der Absolutismus, besonders in der Form, die er znletzt in der Türkei an-