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Die Dame mit dem Orden :
(Fortsetzung)
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Die Dame mit dem Ärden

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meine Intelligenz wollte nicht arbeiten. Psychologie in leichtfaßliche Sätze zu fassen, Dinge zu erklären, die ich selbst nicht ganz klar durchschaue, mit der Verständigung in der fremden Sprache kämpfen und zu versuchen, den orientalischen Geist zu okzidentalisieren, das ist eine harte Aufgabe für einen, dessen Wissen nicht weit her ist. Wenu ich heimkomme, bin ich vielleicht nur noch eine alberne, kindisch glückliche, alte Madam, die sich keinen Deut darum kümmert, ob ihre Haut glatt ist oder nicht.

Die Kriegsaussicht wird immer ernster. Draußen im Binnenmeer eilen die Kriegsschiffe hin und her mit geheimen Aufträgen. Ich hoffe von ganzem Herzen, daß es keinen Krieg geben möge, aber wenn es doch sein soll, so wünsch ich, daß die Japaner das russische Reich ganz von der Landkarte wegwischen!

Hiroshima, Februar 1904

Ich bin atemlos! Seit drei Wochen bin ich auf der Jagd bergauf und bergab, auf die Spitze tannenbestcmdner Berge, in die nebligen Schluchten tiefer Täler, auf und ab am silbernen Fluß, hin und her auf der bereiften Straße! Wonach? Nach meiner Verlornen Fasfung, diesem kostbaren Besitz, an den ich mich, Wie du sagtest, klammern sollte, den ich festhalten sollte wie meine Zähne und Meine Haare. Als ich also merkte, daß sie weg war, ging es hinterher in eifriger Verfolgung. Doch nie bekam ich auch nur ihre Rockschöße zu sehen bis zum letzten Sonntag, wo ich den Wettlauf aufgab und mir vornahm, den alten Kampf der Empörung desWider den Stachel Lockens" auszufechten.

Es war ein prächtiger Tag, die Pflaumenbäume blütenweiß, die Gewürz­sträucher duftschwer! Der Fluß plätscherte fröhlich, und die ganze Erde brach hervor mit neuem, zartem Leben. Ein naseweiser kleiner Vogel saß auf einer alten Steinlaterne und sang direkt auf mich los. Du bist eine rechte Jammerbase, sagte er. Komm heraus! Es ist viel lustiger. Würmer zu fangen und im Sonnen­schein herumzufliegen als im Hause zu hocken nnd Trübsal zu blasen. Jetzt lachte er mich gar noch aus! Ich ergriff meinen Hut und stürzte hinaus, ihm immer nach. Und als ich heimkam siehe da! ich hatte meine Fassung wiedergefunden!

Heute in der Schule fragte ich meine Mädchen, was Glück sei. Eine der Neuen blickte schüchtern empor und antwortete: Sensei, ich glaube, das bist du! Wie ein Heuchler kam ich mir vor. aber es freute mich doch, daß ich wenigstens äußerlich heiter geblieben war. Eins sage ich dir, wenn ich nicht hier draußen mein wirkliches Ich finde und meine Seele in ihrer ganzen Schwachheit und Blöße erkenne, dann geschieht es gar nie. Zu Hause, wo man von Konventionalität, Sitte und den hundert kleinen Interessen des täglichen Lebens eingeengt ist, da ist die Chance, sich selbst zu erkennen, sehr klein. Aber in der Fremde, entblößt von allem iu der Welt außer dem Ich, in grabesähnlicher Einsamkeit, unter neuen Bedingungen, gegenüber von nenen Aufgaben, da hat man reichlich Gelegenheit, seinen Wert selbst einzuschätzen. Ich kann aber trotz all der schönen Worte nicht sagen, daß das Resultat mich gerade eingebildet machen könnte.

Ich passe nämlich in das Leben hier draußen wie ein viereckiger Pflock in ein rundes Loch. Weder bin ich eineGeweihte" nochzur Mission berufen". Ich liebe vielmehr die Welt und das Fleisch, wenngleich ich mir aus dem Teufel nicht viel mache. Ich glaube nicht, daß der Herr den Koch stehlen läßt, damit ich desto geduldiger sei; und ich bitte nicht um Erleuchtung, wenn ich mir ein Paar neue Schuhe kaufe. Wenn meine Stellung schier unerträglich wird, so sehe ich der Angelegenheit immer offen ins Gesicht und bedenke, daß, wenn es hart für den Pflock ist, es ebenso hart für das Loch ist; und daß, wenn sie es aushalten können, ich es wahrscheinlich auch kaun.