640 Maßgebliche und Unmaßgebliches
auf der Hand liegt, daß dadurch das Gegenteil von dem erreicht wird, was man erreichen will. So hat auch iu der uatioualliberalen Partei, deren führende Kreise schon seit lauger Zeit in den eignen Reihen mit sträflicher Indolenz auf der eineu und vollkommner Rat- und Hilflosigkeit auf der andern Seite zu kämpfen haben, der angstvolle Wunsch, nur ja vor der von Schlagworten geleiteten Menge das uötige Maß von Liberalismus zur Schau zu tragen, die politische Vernunft einmal wieder totgeschlagen. Man proklamierte gerade so viel Wahlreformgedanken, wie nötig waren, um die rechtsstehenden Parteien nutzlos zu verärgern und mit Mißtrauen zu erfüllen, und doch auch wieder so wenig, daß man der sozialliberalen und sozialdemokratischen Agitation, die man ja ohnehin gegen sich hatte, ein paar weitere Handhaben zum Vorwurf der Halbheit und Zweideutigkeit an die Hand gab. Trotz dieser mangelhaften Rüstung bildete man sich ein, den freisinnigen Parteien, die nicht nur von den Sozialdemokraten wütend bekämpft, sondern auch von den Sozialliberalen und querköpfigen „Freunden" aus den eignen Reihen im Rücken angefallen wurden, einen wertvollen Sukkurs zum Vorteil der liberalen Sache bieten zu können. Der Mißerfolg war wenigstens ehrlich verdient.
In die Beurteilung unsrer auswärtigen Lage scheint jetzt etwas mehr Klarheit und Ruhe zu kommen. Es war eine etwas seltsame Veranlassung, die diese Selbstbesinnung herbeiführte. Nachdem schon vorher allerlei gemunkelt worden war, daß der Kaiser bei der Frühjahrsparade auf dem Tempelhofer Feld eine bedeutungsvolle Ansprache gehalten habe, erschien vor einer Woche in einem Provinzblatt eine Berliner Korrespondenz aus bekannter Quelle, wonach der Kaiser nach einer Besichtigung in Döberitz eine politische Rede gehalten haben sollte, und zwar in Gegenwart „der fremden Militärattache's", wie es in der Mitteilung hieß. Es wurde auch ein Stück daraus im Wortlaut mitgeteilt; der Kaiser sollte auf die „Einkreisung" Deutschlands Bezug genommen und davon gesprochen haben, daß man anscheinend „uns stellen" und „herausfvrderu" wolle, aber sie sollten nur kommen, die Deutschen hätten sich nie besser geschlagen, als wenn sie von allen Seiten angegriffen worden wären.
Die Meldung war in der verbreiteten Form falsch und beruhte auf ungenauen Erzählungen indiskreter Ohrenzeugen, die allerdings wohl nicht ahnen mochten, was für Mißbrauch mit den aus ihren unbedachten Worten zurechtgezimmerten Sensationsnachrichten getrieben werden würde. Ein englischer Berichterstatter, dem sich andre Kollegen anschlössen, meldete die Sache nach London, noch dazu in einer Form, die — abgesehen von der Verschiebung des Datums — den Eindruck erwecken mußte, als habe der Kaiser ausdrücklich die fremden Attaches eingeladen, um vor ihnen gewissermaßen mit dem Säbel zu rasseln, und als sei diese Mitteilung den Berichterstattern selbst von beteiligten Attache's gemacht worden.
Das alles war unrichtig. Was wirklich geschehn war, war ein harmloser, rein militärischer Vorgang, der vor allem die Öffentlichkeit überhaupt nichts anging. Es ist deshalb auch mit Recht absichtlich und grundsätzlich vermieden worden, etwa eine amtliche Darstellung des Geschehenen und eine amtliche Mitteilung des Wortlauts der kaiserlichen Ansprache zu geben. Der Kaiser hatte die Ansprache an die Offiziere nach einer Übung gehalten, die er alljährlich am 29. Mai mit den Truppenteilen abhält, die er einst als Kronprinz vor zwanzig Jahren an diesem Tage seinem todkranken Vater vorführte — zu seiner letzten Heerschau. Fremde Militärattaches waren zu dieser militärischen Gedenkfeier, die stets intimen Charakter trägt, nicht eingeladen worden; nur befand sich, wie immer bei solchen besondern Gelegenheiten, im Gefolge des Kaisers der russische Militärbevollmächtigte, der nach alter Tradition, die nur unter der Regierung Alexanders des Dritten eine Zeit lang unterbrochen