Maßgebliches und Unmaßgebliches
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Ziegeldach hat, müssen auch alle andern Häuser mit roten Ziegeln gedeckt sein, auch wenn ein Schieferdach in der Gegend billiger und bequemer zu haben ist.
Der einzelstaatlichen Gesetzgebung sind Aufgaben vorbehalten, bei deren Lösung die verschiednen Parteianschauungen mit viel mehr Recht als in der Reichsgesetzgebung in die Wagschale fallen. Die Blockpolitik im Reiche will ja auch durchaus nicht die Parteiunterschiede verwischen, die Parteigrundsatze durchbrechen, sie will die Parteien vielmehr nnr für bestimmte nationale Fragen vereinigen. Die Fragen, die dabei in Betracht kommen, gehören durchweg zu denen, die der Reichsgesetzgebung unterliegen. Für die preußische Landesgesetzgebung kommt es also gar nicht so sehr darauf au, daß Konservative nnd Liberale durchaus zusammengehn.
Nun hat allerdings auch Preußen eine Frage von besondrer nationaler Bedeutung zu losen, die Polenfrage. Sie erfordert einen Kampf, in dem sich der Staat die Waffen nicht leichtfertig aus der Hand winden lassen darf. Wenn das Zentrum in nationalen Fragen der Reichspolitik der Regierung früher eine zwar eigennützige, immerhin aber doch tatsächliche Unterstützung gewährt hat und nun zuletzt dem verblendeten Übermut des Parteigeistes die Zügel schießen ließ, so hat es sich einer nationalen deutschen Politik in der Polenfrage stets entschieden versagt und sich offen auf die Seite der Feinde des Deutschtums gestellt. Das ist um so bedenklicher, als in der Polenfrage auch ein großer Bruchteil der Liberalen unzuverlässig ist und unter vollständiger Verkennung der Natur des Polentnms und der polnischen Ziele doktrinäre Schrullen über realpolitische Notwendigkeiten stellt. Unter solchen Umständen muß der preußische Staat Bedenken tragen, den Schwerpunkt seiner gesetzgebenden Körperschaft ohne zwingende Not verrücken zu lassen nnd durch Demokratisierung des Wahlsystems das Gewicht der Elemente zu verstärken, die ihn in einer wichtigen Lebens- und Kulturfrage im Stich zu lassen fähig sind. Erst müssen wenigstens die Grundlagen einer wirksamen und stetigen Polenpolitik für längere Zeit gesetzlich gesichert seien, ehe ein solches Experiment gemacht werden kann.
Interessant ist die Frage, auf Kosten welcher Partei Zentrum und Sozial- demokraten hauptsächlich ihre Wahlerfolge errungen haben. Es sind die Nationalliberalen, die verhältnismäßig am schlechtesten abgeschnitten haben. Sie haben in diesem Feldzuge unglücklich operiert. Im Grunde mochte wohl die Mehrzahl der einsichtigen Nationalliberalen erkennen, daß der Augenblick, für die Wahlreform in Preußen zu wirken, schlecht gewählt war, weil in den Volkskreisen, auf die mau sich stützen mußte, für ein lebhaftes Drängen in dieser Richtung gar keine Stimmung war. Außerdem mußte ihnen die Rücksicht auf die nationalen Aufgaben, die ihnen nach Überzeugung und Parteitraditivn am Herzen liegen mußten, vor allem die Rücksicht auf die Polenfrage, sagen, daß die Erhaltung einer aus Deutschkonservativen, Freikonservativen und Nationalliberalen nötigenfalls zn bildenden Mehrheit im Preußischen Abgeordnetenhause eine dringende Notwendigkeit sei. Eine Partei, die einen festen Boden im Lande hatte und ihrer selbst sicher war, mußte in solchem Falle den Mut haben, ihren Wählern klar zu machen, daß sie sich im Prinzip für die Reform des Wahlrechts erkläre, aber entschlossen sei, sich aus nationalen Gründen gegenwärtig an dieser Reformbewegung nicht zu beteiligen. Aber es scheint, daß wir für eine solche Art von Politik, die z. B. den Parteien in England und Amerika ganz geläufig ist, in Deutschland noch nicht reif sind. Ein Versuch, die Wähler dazu zu erziehen, daß sie sich für die Mittel interessieren, die wirklich zu dem Parteiziel führen, wird niemals unternommen. Voller Resignation nehmen die Parteileitungen als selbstverständlich an, daß sich der Wähler nur von dem der Parteidoktrin entnommnen Schlagwort leiten läßt, auch wenn es