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Maßgebliches und Unmaßgebliches
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel Berlin, 21. Juni 1908
(Die preußischen Landtagswahlen. Die Döberitzer Kaiserrede. Der Fall Bernhard.)
Den Urwahlen für das preußische Abgeordnetenhaus siud am 16. Juni die Abgeordnetenwahlen gefolgt, sodaß die Zusammensetzung des neuen Hauses mm endgiltig feststeht. Da das Ergebnis der Wahlmännerwahlen schon eine annähernd richtige Schätzung gestattet, so hat der entscheidende Tag in der letzten Woche keine eigentlichen Überraschungen gebracht. Das Ganze ist nur etwas leichter zu übersehe», und Behauptungen, die neulich uoch eine hypothetische Färbung hatten, können jetzt in bestimmter Form aufgestellt werden.
Wir haben das Ergebnis der Wahlen schon so weit besprochen, daß nur wenig noch nachgetragen zu werden braucht. Wir kommen deshalb auch nicht noch einmal auf die Frage zurück, was der Aufgang des sozialdemokratischen Siebengestirns am parlamentarischen Himmel des Königreichs Preußen bedeutet. Aber gewonnen hat außerdem auch das Zentrum, und so kann man sich denken, wie dieser Erfolg der „Antiblockleute" glossiert wird. Solche Glossen machen natürlich auch den gewünschten Eindruck, obwohl nüchternes Nachdenken sogleich zeigen müßte, daß geuau dieselbe Erscheinung eingetreten sein würde, wenn in der Reichspolitik niemals von einem Block die Rede gewesen wäre. Schon aus diesem Grunde hätte richtige Taktik die Blockparteien veranlassen müssen, den Gedanken der Blockpolitik nicht ohne weiteres auf die preußische Politik zu übertragen. Es spricht sich darin derselbe Grundfehler aus, der auch in der Wahlrechtsfrage eine so seltsame Rolle gespielt hat. Die Einrichtungen und die Politischen Grundsätze in den Einzelstaaten sollen nach dieser Auffassung nur das verkleinerte Abbild der Verhältnisse im Reiche sein, und die kommunalen Verbände sollen wieder das verkleinerte Bild des Staates geben. So wird mechanisch alles nach einem Schema aufgebaut; welcher Zweck damit verbunden wird, danach scheint niemand zu fragen. So erregte sich der Liberalismus seinerzeit darüber, daß in Hamburg ein „reaktionäres" Wahlrecht eingeführt wurde, und verlangte, daß der Bundesstaat Hamburg sich möglichst den Verhältnissen im Reiche anpasse, am besten womöglich das Neichstagswahlrecht auf seinen Staatsverband übertrage. Man wollte nicht sehen, daß Hamburg nach seiner staatsrechtlichen Stellung im Reiche zwar ein Bnndesstaat, aber in bezug auf die Zwecke seiner innern Verwaltung doch vor allem eine städtische Gemeinde ist. Nur um einer innerlich ganz und gar unbegründeten Doktrin willen sollte sich Hamburg eine ganz widersinnige Verfassung geben; der ersten Seehaudelsstadt des Reichs wurde zugemutet, über die wichtigsten Angelegenheiten ihrer kommunalen Verwaltung die Masse der Abhängigen und Vermögenslosen entscheiden zu lassen, die Träger der eigentlichen Lebensinteressen des großen Handelsplatzes aber möglichst auszuschalten. Wir erinnern an das Beispiel von Hamburg, weil es am deutlichsten zeigt, wie das ganz willkürlich verkündete, vollkommen unhaltbare Prinzip von der Notwendigkeit der Übereinstimmung zwischen Netchseinrichtungen und einzelstaatlichen Verhältnissen in seinen Konsequenzen zum handgreiflichen Unsinn wird. Die Frage, warum denn die Volksvertretung des Königreichs Preußen nach denselben Grundsätzen zusammengesetzt sein muß wie der deutsche Reichstag, ist bisher noch nie wirklich befriedigend beantwortet worden, und sie kann auch überhaupt niemals überzeugend beantwortet werden, denn diesem Grundsatz fehlt ebenso die innere Begründung, wie etwa der Behauptung: weil in einem Ort ein Haus ein rotes