Beitrag 
Russische Briefe. 12. Rußland, Deutschland und die Polen
Seite
453
Einzelbild herunterladen
 

453

Andrerseits habe sich auch der Stand und der Umfang des polnischen Kultur­besitzes geändert durch die Fortschritte der Entnationalisierungspolitik sowie durch das Entstehn nationaler, gegen die Polen gerichteter Bestrebungen, wie zum Beispiel der litauischen und der ukrainischen. Die polnische Machtsphäre erweitere sich durch das Erwachen des polnischen Geistes und Lebens in Ländern, die schon jahrhundertelang für dentsch gehalten worden waren, wie in Preußisch- und österreichisch-Schlesien.Gegenwärtig gibt es eine Polenfrage in einem Gebiet, das größer ist als der polnische Staat vor den Teilungen, das andert­halbmal so groß ist wie das Deutsche Reich."

Herr Dmowski teilt das Gebiet in vier Teile ein: 1. Posen, Westpreußen, Ostpreußens) und Oberschlesien, 2. Litauen und Weiß- und Kleinrußland, 3. das Zartum Polen, 4. Galizien und das Fürstentum Tescheu.

Mit Bezug auf die Bedeutung, die diese Gebiete für die einzelnen Staaten haben, sind sie nach Dmowski in zwei Kategorien zu teilen. Erstens solche, die eine geographische Notwendigkeit für die Staaten darstellen. Diese Kategorie umfaßt die beiden ersten Teile. Die von Preußeu in Besitz genommnen polnischen Gebiete waren für Preußen notwendig, um eine mehr oder weniger normale Ostgrenze zu schaffen, sowie um den deutschen Charakter der Ostseeküste bis zur Mündung des Njemen zu sichern. Ebenso war für Rußland, das das Baltikum mit Riga und das Schwarze Meer mit Odessa erworben hatte, Litauen und Westrußland zur Herstellung einer normalen Westgrenze nötig. Weder Rußland noch Deutschland hätten sich über einen etwaigen Verlust der genannten Gebiete hinwegsetzen können.Das Streben, diese Gebiete zu sichern, war das Leit­motiv für ihre ununterbrochne Tätigkeit, sich die Bevölkerung der gekennzeichneten Gebiete völlig zu assimilieren."

Der Besitz der zur zweiten Kategorie gehörenden Gebiete das Zartum Polen und Galizien sei weder für Rußland noch für Österreich eine Not­wendigkeit. Ihre Vereinigung habe sogar im Gegenteil die normalen Grenzen dieser Staaten zerstört und sozusagen geographische Mißgestaltungen hervor­gerufen. So sei das Zartum Poleu, das nur im Besitz des Mittellaufs der Weichsel ist, sowohl von der Mündung wie von den Quellen abgeschlossen.Der Besitz dieser Gebiete kann nur dann dauerhaft sein, wenn Nußland und Österreich den Gedanken haben, in Zukunft weitere territoriale Erwerbungen Zu machen. Zugleich bilden diese Gegenden den Kern der polnischen Kraft, die durchaus kein leicht zu verdauendes Element ist. In diesen Gegenden ist die Liquidierung der Polenfrage durch Vernichtung der Polen und Zerstörung der polnischen Kultur ganz unmöglich." Diese An­sicht Dmowski ist unbedingt zutreffend.

In der russischen Geschichte ist Dmowski aber nicht ganz zu Hause, wenn er schreibt:Als Alexander der Erste auf dem Wiener Kongresse die Vereinigung Polens mit Rußland forderte, hielt er dieses Gebiet in keiner Beziehung für einen notwendigen Bestandteil Rußlands." Wie bekannt hat Alexander die Polen seine Avantgarde gegen Europa genannt und damit zum Ausdruck gebracht,