Skizzen aus unserm heutigen Volksleben
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Ach, Muttche, sagte Erna schwärmerisch, ich möchte einmal auf dem Kopfe stehn. Was? auf dem Kopfe stehn?
Ja, Muttche, auf dem Kopfe stehn, die Beine ganz hoch in der Luft.
Muttche machte sich auf und störte ihren lieben Mann bei der Arbeit. Der liebe Mann stellte seine Pfeife beiseite und faltete die Hände.
Was ich dir sagen wollte, begann Muttche, diese Erna ist doch ein zn merkwürdiges Mädchen. Ich frage sie nach einem Wunsche, den sie hat, und sie antwortet: Auf den: Kopfe stehn, die Beine ganz hoch in der Luft.
Gefällt mir, erwiderte Vaterchen. Bescheidner Wunsch, keine Diamantbrosche, kein Automobil, auch keine Badereise.
Aber auf dem Kopfe stehn! Vaterchen.
Warum nicht, wenn sie nicht darauf besteht, das Exerzitium vor versammeltem Kriegsvolke zu machen.
Muttche kannte ihren lieben Mann und bestand nicht darauf, diesen Gedanken weiter zu diskutieren. Es ist mir nur darum, sagte sie, wie kommt ein solches Mädchen auf so einen Gedanken?
Was weiß man denn von einem Menschen, antwortete Vaterchen, wenn man seinen Namen kennt und tausend Worte mit ihm gewechselt hat. Das Sprichwort redet von einem Scheffel Salz. Ich meine, auch das genügt nicht.
Das war ja nun soweit richtig, und Muttche mußte sich damit zufriedengeben, vor einem Rätsel zu stehn, das sie nicht lösen konnte.
Alle Jahre im Herbst war Messe auf der Woorth in Graupenhagen, der benachbarten größern Stadt. Muttche hatte die Erfahrung gemacht, daß solch ein Jahrmarkt für junge Mädchen ein großes Vergnügen bedeutete, auch wenn diese jungen Mädchen aus der Großstadt und aus feinen Häusern stammten. Und so überwand sie denn das eigne Vorurteil und die Rücksichtnahme auf das Kopfschütteln gewisser Amtsschwestern und fuhr mit ihrer jungen Schar auf den Woorthmarkt. Die alte Pastorenkutsche uud ein Break des Nachbars wurden bespannt und vollgepackt, und dann ging es mit viel Geschrei nnd Gelächter los — es war ein Hauptspaß. Auch Erna war ganz bei der Sache, sie strahlte vor Erwartung und Vergnügen. Als man aber den Jahrmarktslärm von ferne hörte, war es ihr, als täte sich ihr eine neue Welt auf, die ihr doch so bekannt vorkam. Und der Jahrmarktsdunst, der aus Staub, Obstgeruch und dem Dampfe von bratendem Öl bestand, War ihr unsäglich interessant. Sie setzte sich an die Spitze der pensionatlichen Expedition und drängte mit brennenden Wangen so schnell vorwärts, daß Muttche kaum folgen konnte. Was hat denn das Mädchen? fragte sich Muttche. Ach es ist Wohl darum, weil der arme Vogel, der sein Lebtag im Käfig gehalten wurde, die freie Welt noch nicht gesehn hat.
Man graste den Jahrmarkt gründlich ab. man fuhr auf dem Karussell, man ritt im Hippodrom, man besuchte eine große Extravorstellung eines weltberühmten Zirkus, man amüsierte sich über die Ausschreier, man kaufte Pfefferkuchen und — da war Erna verschwunden. Muttche wurde ungehalten. Wie oft hatte sie gesagt, die jungen Mädchen möchten hübsch beisammenbleiben. Aber Erna war und blieb verschwunden. Nach einer Stunde fand man sie hinter der Budenreihe, wie sie auf der Treppe eines Wohnwagens saß, ein Bärenbaby auf dem Schoße hatte und zusah, wie eine junge Mutter in Trikots ihr Baby aus einem rußigen Topfe fütterte.
Aber Erna! rief Muttche.
Ist es nicht reizend? antwortete Erna, indem sie ganz selig aussah. Aber Erna, sagte Muttche. hast du uns denn ganz vergessen? Ach, Mnttche, erwiderte Erna, es war zu wundervoll. Grenzboten II 1908 31