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Neujahrsgedanken, erbauliche und unerbauliche
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Neujahrsgedanken

kein Minister würde es wagen, ihm in den Arm zu fallen. Das begreift aller­dings der Deutsche schwer, der sich seine politischen Ansichten, namentlich die von der auswärtigen Politik, die ihm immer soungemein einfach" vorkommt, von seiner Zeitung" machen läßt und es unter allen Umständen für das oberste Recht des Staatsbürgers halt, die Negierung zu bekritteln und ihr auch in Dingen zu mißtrauen, von denen er wirklich gar nichts versteht, noch versteh« kann, noch zu verstehn braucht.

So war er auch ohne weiteres geneigt, in das ängstliche Zeitungsgeschrei von der drohenden Einkreisung kleinmütig einzustimmen und unsre Regierung dafür verantwortlich zu machen, ihrer angeblich schwankenden, bald heraus­fordernden, bald furchtsamen Politik die Schuld beizumessen. Von cilledem ist es recht still geworden. Entweder hat jene englischeEinkreisungspolitik" gar nicht bestanden, oder sie ist aufgegeben. Das Verdienst, diese Wendung, wenn es eine ist, herbeigeführt zu haben, nimmt unsre Regierung keineswegs für sich allein in Anspruch. Einflußreiche und einsichtige Kreise diesseits und jenseits des Kanals haben vielmehr daran mitgearbeitet, und die gegenseitigen Besuche, vor allem der Empfang der englischen Journalisten in Deutschland im Mai des letzten Jahres, werden doch wohl die Teilnehmer davon überzeugt haben, daß wir ein aufstrebendes, ruhig arbeitendes und wohlhabendes, aber durchaus fried­liches Volk sind, das seine Selbständigkeit und seine Interessen gegen jeden Feind wahren wird, daß aber der Ausbau unsrer Kriegsflotte nur zu unserm Schutze, nicht zum Angriff auf England bestimmt ist, und daß für den wirt­schaftlichen friedlichen Wettkampf die Erde Raum für beide Völker bietet. Der Besuch König Eduards in Wilhelmshöhe und der Aufenthalt unsers Kaiser­paares in England waren bestimmt, die letzten Reste der Verstimmung zu be­seitigen, und das englische Volt hat durch seine warme Beteiligung am Empfange gezeigt, daß dieser nicht nur eine höfische Veranstaltung war. Einzelne Kreise und Preßorgane jenseits des Kanals haben freilich das alte Mißtrauen und Übelwollen gegen die angeblich aggressive Politik des Kaisers noch keineswegs aufgegeben, und eins darf man nie vergessen: nur ein starkes, selbstbewußtes Deutschland wird den Engländern imponieren.

Die günstigen Folgen eines bessern Einvernehmens mit England haben sich uns schon in Südafrika gezeigt, als der Hottentottenaufruhr von neuem auf­zuflammen drohte, und die kaplündische Polizei mit unsern Truppen zusammen­wirkte, um Morenga unschädlich zu machen. Der schwere Kolonialkrieg ist durchgekämpft, die friedliche Arbeit hat in der mit deutschem Blute in deutschen Boden verwandelten Kolonie wieder begonnen, während zugleich im englischen Südafrika das Holländertum kräftig emporstrebt und vielleicht zur innern Über­legenheit gelangt. Hoffentlich zeigt sich die freundliche Nachbarschaft Englands auch dort, wo die zukunftsreiche Bagdadbahn nach Mesopotamien vordringt und sich dem Persischen Golf nähert, den England zu seiner indischen Einflußsphäre zu rechnen geneigt ist.