Maßgebliches und Unmaszgebliches
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Familiensinn und Familienforschung. Das im vorigen Jahrhundert in bürgerlichen Kreisen ziemlich allgemein erloschene Interesse für Familiengeschichte und Familienforschuug ist in den letzten Jahren erfreulicherweise wieder erwacht und findet in zahlreichen Vereinen, vor allem auch bei der „Zentralstelle für deutsche Personen- und Familiengeschichte in Leipzig" sachgemäße Förderung und Pflege. Die Erkenntnis, daß der Sinn für Familieuzusammeugehörigkeit und für die Erhaltung des Gedächtnisses der Vorfahren und der Lebenden keineswegs ein Privilegium des Adels sein darf, uud daß viele bürgerliche und bäuerliche Geschlechter auf ein mindestens ebenso ehrwürdiges Alter und auf eine an Schicksalen und Leistungen sicherlich nicht ärmere Vergangenheit zurücksehen können, bricht sich immer mehr Bahn und hat gerade in unsrer Zeit, wo von einer , gewissen Seile lediglich zu parteipolitischen Zwecken an der Grundfeste des Staates und alles gesellschaftlichen Lebens, der Familie, gerüttelt, auf Kosten jeder berechtigten Tradition eine höchst törichte Gleichmacherei gepredigt und an der Proletarisieruug gutbürgerlicher Kreise gearbeitet wird, unzählige eifrige Vorkämpfer gefunden. Trotzdem begegnet man ab uud zu immer noch einzelnen sonst recht gebildeten uud vernünftigen Leuten, die sich alleu auf die Erforschung der Familiengeschichte gerichteten Bestrebungen gegenüber ablehnend verhalten und in der Pflege der Familiengeschichte einen zwar harmlosen aber überflüssigen Sport sehen. Solche Leute sind nicht leicht zu belehren, es fehlt ihnen eben der bei unsern Vorfahren so stark ausgeprägte Familiensinn, und das Goethische Wort:
Wohl dem, der seiner Vater gern gedenkt, Der froh von ihren Taten, ihrer Größe Den Hörer unterhalt und, still sich freuend, Ans Ende dieser schönen Reihe sich Geschlossen sieht!
kann für sie nur ein hohler Schall sein. Man ist so leicht geneigt, die wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften der Neuzeit als eiu ausschließliches Verdienst der lebenden Generation zu betrachten, uud vergißt darüber, daß auch ivir nur auf deu Schultern unsrer Väter stehen, die in einem vielleicht bescheidner» Wirkungskreise die Basis für unsre Tätigkeit und Erfolge geschaffen haben. Vor dieser Selbstüberhebung wird jeder bewahrt bleiben, der sich in die Geschichte seiner Familie vertieft, denn er wird sich der Wahrnehmung nicht verschließen können, daß alles, was er an Neigungen, Fähigkeiten uud Fertigkeiten befitzt, in einer den Zeitverhältnissen entsprechenden Form schon bei seinen Ahnen (im genealogischen Sinne verstanden!) erscheint, und daß sich die Methoden des Denkens genau so gut vererben wie die Traditionen des Handwerks. An dem so viel bespöttelten „Ahnenstolz" — ein Wort, das die Gegner der Familienforschnng gewöhnlich als letztes und schwerstes Geschütz auffahren — leidet der genaue Kenner seiner Familiengeschichte am allerwenigsten, denn die Beobachtung, daß es in jeder Familie ein Aufsteige» aus den beschränktesten Verhältnissen und nur zu häufig auch wieder ein Hinabsinken von der Höhe einer mehr oder minder glänzenden Position oder eines mehr oder minder bedeutenden Wohlstandes gibt, lehrt ihn, jede ehrliche Arbeit und jedes redliche, wenn auch nicht von äußern Erfolgen gekrönte Streben zu achte». Uud wie interessant spiegelt sich die Weltgeschichte im engen Rahmen der Familiengeschichte wieder! Eine wie andre Bedeutung gewinnt für einen Menschen das Zeitalter der Reformation, wenn er erfährt, daß seine Vorfahren um ihres Glaubens Wille» ihre Heimat verlassen mußten, wie viel ernster erscheint ihm der Dreißigjährige Krieg, wenu er zum Beispiel in den Aufzeichnungen eines seiner Vorfahren liest, daß der Stammhof der Familie am Tage nach der Schlacht bei Breitenfeld von den Kroaten geplündert wurde!