Maßgebliches und Unmaßgebliches
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haben. Der nationalliberale Abgeordnete Hieber, der besonders wirkungsvoll für den Sprachenparagraphen eintrat, konnte mit Recht schlagfertig dem Fürsten Radziwill erwidern: Auch Sie, Herr Abgeordneter Fürst Radziwill, sitzen in einer Fraktion mit dem Abgeordneten Kulerski. Noch schienen die Gegner die Hoffnnng zu haben, daß sich ein Teil der bürgerlichen Linken von dem Kompromißantrag der Kommission zurückziehen werde. Der Abgeordnete von Pciyer vereitelte diese Hoffnung. Er, der radikale Süddeutsche, der schon in der Kommission tapfer seine Stimme für eine vernünftige Auffassung des Prinzipienstnndpunkts erhoben hatte, wiederholte jetzt im Plenum den wesentlichen Gedankengang seiner damaligen Ausführungen. Unter dem Toben uud Höhnen des Zentrums und der Sozialdemokratie bekundete er das Festhalten an der Überzeugung, daß das neue Vereinsgesetz einen Fortschritt in freiheitlichem Sinne bedeute und an dem Paragraphen 7 nicht scheitern dürfe. Über die preußische Polenpolitik sprach er mit verständiger Zurückhaltung. Daß er sie loben sollte, erwartete bei seinen bekannten politischen Grundsätzen natürlich niemand von ihm; um so schwerer fiel es ins Gewicht, daß er doch volles Verständnis für die eigenartige Lage des preußischen Staates bewies und — was für einen deutschen Politiker selbstverständlich sein sollte, es aber leider nicht ist — es ablehnte, den besondern Anwalt polnischer Interessen zu spielen. Was wir an dem Standpunkte Payers auszusetzen haben, ist hier früher dargelegt worden. Wenn er die vollen Konsequenzen seiner Erwägungen gezogen hätte, so hätte ihm sein politisches Gewissen auch ebensogut erlauben müssen, für den Paragraphen 7 in der ursprünglichen Fassung der Regierungsvorlage zu stimmen. Diese Fassung kam nach der ganzen Lage jedoch nicht mehr in Betracht, nachdem sich die Parteien der Rechten und der Regierung über den Kompromißantrag geeinigt hatten, und der nachträgliche Versuch, den alten Paragraphen 7 wiederherzustellen, notwendig das ganze Gesetz gefährden und wichtigere politische Errungenschaften aufs Spiel setzen mußte. Deshalb muß das Auftreten Payers im Plenum von einem andern Standpunkte beurteilt werden als damals in der Kommission.
Die Haltung des Abgeordneten von Payer sowie die des Herrn Müller-Meiningen erregte vorzugsweise die Wut der Blockgegner, die nun erst vollkommen erkennen mußten, daß ihr Spiel verloren war. Der nennstüudige Kampf wurde mit einer an die schlimmsten Zolltarifdebntten erinnernden Leidenschaftlichkeit unter heftigen Zwischenrufen und lärmenden Unterbrechungen geführt. Aber es nutzte nichts; alle Abänderungs- anträge wurden abgelehnt und der Sprachenparagraph in der Kommissionsfassung mit 200 Stimmen gegen 179 bei 3 Stimmenthaltungen angenommen. Es ist übrigens wohl, solange der Reichstag besteht, noch nicht dagewesen, daß bet einer Abstimmung eine so hohe Präsenzziffer erreicht wurde. Nur 15 Abgeordnete fehlten an der vollen Besetzung des Hauses, eine außergewöhnlich geringe Zahl, wenn man bedenkt, daß das Fehlen einzelner wegen Unpäßlichkeit oder andrer Behinderungsgründe unvermeidlich ist. Man kann also sagen, daß von beiden Seiten der letzte Mann aufgeboten worden war, um jede Chance für den Sieg auszunutzen. Um so höher ist der hart crrungne Sieg zu schätzen. Das Zustandekommen des Vereinsgesetzes mit dem allerdings bedenklich umgestalteten Sprachenparagraphen ist nun gesichert. .
Der Reichstag wird gegen Ende dieser Woche seine Osterpause beginnen. Da das Vereinsgesctz bis dahin bestimmt, die Börsengesetznovelle wahrscheinlich erledigt wird, so behält der Reichstag diesmal für die Zeit nach Ostern nur ein geringfügiges Arbeitspensum übrig. Für die Börsengesetznovelle ist in der Kommission ebenfalls ein Kompromiß auf der Grundlage der von den Nationalliberalen eingebrachten Anträge abgeschlossen worden, und die Entscheidung darüber soll ebenfalls noch vor Ostern fallen.
Eine wichtige und interessante Verhandlung ist noch aus der vorigen Woche zu verzeichnen. Es handelte sich dabei um die Frage der Schiffahrtsabgaben, die durch eine Interpellation zum Gegenstande der Erörterung gemacht worden war. Grmzboten U 1908 , 14 . ^