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Maßgebliches und Unmaßzebliches
Gröber mit ihren merkwürdigen Folgeerscheinungen ist dahin auch der sonderbare „Sängerkrieg" zu rechnen, der neulich zwischen den Abgeordneten Roeren und Müller-Meiningen ausgefochten wurde. Es kann ja wohl vorkommen, das politische Gegner im hitzigen Wortgefecht etwas persönlicher werden, als vielleicht notwendig ist. Wenn sie sich aber unter steigender „Heiterkeit" des Hauses, dessen Stimmung stark an die eines Zirkuspublikums bei einer guten Nummer erinnert, gegenseitig mit improvisierten Knittelversen bombardieren, die noch sehr wesentlich hinter den Ansprüchen an gewöhnliche Knallbonbondevisen zurückbleiben, dann kann das bei Männern in solcher Stellung und solchem Lebensalter nur peinlich wirken. Das werden selbst weitherzige Beurteiler empfinden, die sonst bereit sind, bei der Abwesenheit von wirklichem Humor und Witz mit dem bescheidensten Surrogat vorlieb zu nehmen.
Zu diesen für das Ansehen des Reichstags nicht gerade ersprießlichen Scherzen kam neuerdings hinzu, daß der „Antiblock", wie man jetzt die Vereinigung von Zentrum und Sozialdemokratie bezeichnet, bei dem Vereinsgesetz in der unverantwortlichsten Weise von dem gefährlichen Mittel der Obstruktion Gebrauch machte. Wenn schon bei den Zolltarifsverhandlungen vor sechs Jahren die Obstruktion der Minderheit scharfen Tadel verdiente, so muß man doch zugeben, daß dieses Kampfmittel damals sinnvoller und mit mehr Aussicht angewandt wurde als jetzt. Denn zu jener Zeit konnte der zähe Widerstand der Minderheit wenigstens mit der entfernten Möglichkeit der Ermüdung des Gegners rechnen; es war nicht ganz ausgeschlossen, daß die Minderheit bei einzelnen Abstimmungen, in denen es durch Mittel der Obstruktion gelang, einen günstigen Augenblick zu erfassen, in eine Zuscillsmehrheit verwandelt wurde, und daß so eine Durchlöcherung des Gesetzes und der Tarifbestimmungen glückte, die das Ganze unbrauchbar machte. Gegenwärtig beim Vereinsgesetz lagen jedoch die Verhältnisse ganz anders, und das hat auch der weitere Verlauf der Beratungen bestätigt. Die Obstruktion des Anti- blocks war eine Torheit, eine Kinderei, die nur die Folge haben konnte, die Verhandlungen um einige Tage zu verlängern, die aber an der Entscheidung nichts mehr zu ändern vermochte. Das Neichstagsmandat scheint auf manche Leute einen eigentümlich verjüngenden Einfluß auszuüben; wenigstens bei dem Zentrum zeigt sich das Bedürfnis, Trotz und Ärger zu bekunden, mitunter in Formen, die man sonst mir auf den Schulbänken zu suchen Pflegt.
Nachdem am 3. April die Durchberatung des Vereinsgesetzes durch Obstruktionsreden und immer wieder beantragte namentliche Abstimmungen ohne vernünftigen Zweck endlos hinausgezogen war, sodaß man über die Annahme der Paragraphen 1 bis 6 in der Koinmissionsfassung nicht hinauskam, drehte sich am folgenden Tage die ganze Verhandlung allein um den Paragraphen 7, den Sprachenparagraphen. Über neun Stunden dauerte die Debatte! Die Gegner des Paragraphen nützten die Gelegenheit zum Reden sehr reichlich aus. Das würde ihnen niemand verdenken können, wenn sie in der Verteidigung ihrer Überzeugung etwas Neues und Wirkungsvolles hätten sagen können. Aber es waren sehr dürftige und allgemein gehaltne Klagen, die nur durch das Mittel künstlicher Verlängerung und beständiger Wiederholung mühsam den Anschein einer ehrlichen Verteidigung aufrecht zu erhalten suchten. Die Blockparteien hatten Verständnis genug, diese nicht eben glücklichen Versuche ihrer Gegner durch keine Schlußanträge zu stören. Die Schwäche des Antiblocks zeigte sich auch in verschiednen einzelnen Zügen. Der Abgeordnete Spähn brachte es fertig, dem Paragraphen 7 eine knlturkämpferische Absicht unterzulegen; der Kampf gegen die Muttersprache bedeute einen Kampf gegen die katholische Religion — wobei freilich der Zusammenhang zwischen öffentlichen Versamyi- lungen und religiösem Leben unklar bleibt. Und mindestens unvorsichtig war der Hinweis der Antiblockredner auf die Gegensätze, die sich im Block zusammengefunden