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Maßgebliches und Unmaßgebliches
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Maßgebliches und Unmaßgebliches

nur in Verbindung mit der revolutionären Sozialdemokratie zu denken. Um so wichtiger ist, daß einmal ernstlich und praktisch der Versuch gemacht wird, das an sich berechtigte Empfinden der Arbeiter aus der Verquickung mit revolutionären Theorien heransznlösen. In dieser Beziehung hat lange eine gewisse Begriffsver­wirrung geherrscht. Die konservative Partei zum Beispiel hat zwar im Sinne der kaiserlichen Botschaft von 1881 die Verpflichtung des Staates zur Unterstützung der wirtschaftlich Schwachen anerkannt und an der Verwirklichung der sozialpoli­tischen Gesetzgebung, solange sie den Charakter der Fürsorgepolitik festhielt, ge­treulich mitgearbeitet, sie hat aber die innere Berechtigung einer Arbeiterbewegung und einer Einfügung der speziellen Interessen desvierten Standes" in die Ge­samtheit der nationalen Interessen lebhaft bestritten.Es gibt keinen vierten Stand", konnte man noch vor zehn Jahren gelegentlich aus dem Munde konservativer Ver- smnmlungsredner hören. Alle diese Bestrebungen standen eben zunächst außerhalb des die Vorstellungen beherrschenden Staatsideals, und doch hätte man erkennen müssen, daß das Solidaritätsbedürfnis der Jndnstriearbeiterschaft, dieser aus dem modernen Wirtschaftsleben natürlich hervorgewachsnen Gesellschaftsgruppe, ein ge­wisses Gegengewicht gegen die nivellierenden und auflösenden Einflüsse eines durch die moderne politische Entwicklung erzeugten einseitig betonten Individualismus zu bieten vermochte, das heißt gegenüber dem kapitalistischen Liberalismus eigentlich einkonservatives" Prinzip bedeutete. Vou eiuer Partei war diese Einsicht viel­leicht ein bißchen viel verlangt, da politische Parteien immer einen Ballast vou Traditionen und Vorurteilen mit sich herumschleppen, und da auch materielle Interessen dabei mitsprechen hier zum Beispiel der fatale Gedanke, daß auch die länd­lichen Arbeiterklassenbewußt" werden könnten. Die Arbeiterbewegung hat dadurch jedoch nicht aufgehalten werden können, nnd so muß mit ihr gerechnet werden. Der Staat darf sich durch dasKlassenbewußtsein" nicht schrecken lassen, sobald nur eine Möglichkeit erkennbar ist, daß es aus dem Bannkreis einer direkt staats­feindlichen Theorie heraustritt.

Wenn bisher eine gewisse Furcht vor dem Klassenbewußtsein der Arbeiter ge­herrscht hat, so hat dies zum Teil auch den Grund gehabt, daß es von liberaler Seite niemals als ein sozial aufbauendes Prinzip betrachtet worden ist, sondern mir als ein Mittel, die Kraft einer oppositionellen Bewegung gegen den als reaktionär augescheuen Staat durch numerisches Gewicht zu verstärken. Deshalb widersetzte sich Friedrich Nanmcmn seinerzeit sehr lebhaft der Abtrennung der christ­lichen Arbeiterbewegung von der sozialdemokratischcn. Er setzte seinen ganzen Einfluß dafür ein, das Znsammengehn dieser Gruppen mit den Sozialdemokraten durch­zusetzen, weil er die Arbeiterschaft zusammenhalten wollte, um einen Druck auf die Herbeiführung einer freiheitlichen Entwicklung, wie er sie sich dachte, ausüben zu können. Er hegte die Illusion, eine Demokratisierung der Staatsordnung würde ohne weiteres die Proletaricrmcisseu wieder auf nationalen Boden zurückführen. In dieser Meinung, die deu Interessen der Arbeiterschaft in Wahrheit geschadet hat, begegnete sich Nanmcmn mit einer Richtung innerhalb des deutschen Liberalismus, die sich vornehmlich in der Freisinnigen Vereinigung betätigte; aus dieser Über­einstimmung entstand bekanntlich der sogenannte Sozialliberalismus und der An­schluß Naumanns an die Freisinnige Vereinigung.

^ Dnrch alle diese Bestrebuugen ist es dem Teil der Arbeiterschaft, der sich gern aus der Umklammerung der Sozialdemokratie befreien möchte, erschwert worden, seinen Weg zu finden. Aber es ist erfreulich, daß der Staat und die bürgerlichen Parteien die Bedeutung der Sache erkannt haben und zu dem Arbeiterkongreß in das richtige Verhältnis getreten sind. Das war nm so notwendiger, als unter den