Beitrag 
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Seite
432
Einzelbild herunterladen
 

432

Maßgebliches und Unmaßgebliches

Stoffe, die aus der Bibel entlehnt sind, dürfen nach den alten Grundsätzen des Zensors überhaupt nicht auf die Bühne gebracht werden- ein unglaublicher Rest der alten, bornierten puritanischen Weltanschauung. Masfenets Oper Hsroäias konnte deshalb erst dann in Convent Garden aufgeführt werden, als alle biblischen Namen geändert worden waren, und man glaubt, daß der Zensor auch nur dann Strcmßens Salome zulassen wird, wenn andre, möglichst moderne Namen in die Rollen eingesetzt werden. Es ist aber zu erwarten, daß sich Strauß zu einem solchen Humbug nicht hergeben wird. Das Verlangen der Mnsikenthnsicisten nach Salome ist so groß, daß es in der nächsten Saison offenbar zu einer gewaltigen Agitation kommen wird, bei der hoffentlich der Zensor mit seiner ganzen Puder­perücke und seinem wurmstichigen ästhetischen Glaubensbekenntnis aus dem englischen Kunstleben weggefegt werden wird. Lrnst Groth

Zwei altschwäbische Ästhetiker. Mit dem Dichter uud Zeichner Reinick und dem Landschaftsmaler Schirmer gehört der Ästhetiker Bischer zu den nuu ein Jahrhundert alten. Zweiunddreißigjährig sind diese drei in Rom zusammengetroffen, uud Wischers damals in Italien an die nächsten Verwandten und den Freundeskreis der Strauß, Mörike usw. geschriebnen Briefe hat sein Sohn, der Göttinger Kunst­historiker, soeben als Büchlein herausgegeben.*) Die Ausgabe läßt manches zu wünschen übrig von den schwäbischen Kraft- und Dialektwörtern Wischers zum Beispiel werden nur die wenigsten erklärt, was Auftätscherles, Mödel, Gencif, ein sturzener Ofen, Kressich, ahnd ist, wüßten wir Nichtschwaben auch gern, uud wenn Bischer die Abteilung Castel-lamare in einem Bnche von sich hätte gedruckt lesen müssen, hätte er wohl einen tüchtigen Fluch losgebrannt, aber die Briefe sind trotzdem unterhaltend zu lesen, für den Laien wegen ihres Humors, für den historisch Ge­bildeten auch wegen des Zeitkolorits, d. h. der Wende von Jean Paul zu dem Realismus gegen 1870 hin. Bischer schreibt zwar einmal nach Hause, die schönsten Stellen aus Goethes Briefen aus Italien summten ihm immer in den Ohren, dabei erscheint er aber unwillkürlich mehr als ein Schöpfte in Italien, und mit derselben Sentimentalität wie Albano die von seiner Ziehschwester Rabette gestickte Brieftasche holt der junge Tübinger Professor die ihm von seiner Schwägerin gestickte zu seiner eignen Überraschung in Italien aus dem Rocke.

In anderm Sinne darf der lebende Bischof von Rottenburg, Dr. Paul Wilhelm von Keppler, ein altschwäbischer Ästhetiker genannt werden. Er erfreut uns in seinem neusten Buche**) als feinsinniger Führer auf einer Wanderung durch Württembergs letzte Klosterbauten, lehrt uns den Zauber des Freiburger Münsterturmes kennen, betrachtet mit abgeklärt katholischem Verständnis Rubens als religiösen Maler, Rasiciels Madonnen und das Sposalizio und Thomas von Aquiu als Gegenstand der mittel­alterlichen Malerei immer mehr den Gefühls- und geistigen Inhalt als das eigentlich sehbare darlegend und macht schließlich gegenüber der schlimmen Gegenwart seinem Herzen Luft in einer liebenswürdigen, auch anmutend illustrierten oratio xro lastitis..

*) Briefe aus Italien von Friedrich Th. Bischer. München, 1907.

Aus Kunst und Leben. Neue Folge. Von Dr. Paul Wilhelm von Keppler. Frei­burg i. Br., 1906.