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Sind wir eine Nation?
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Sind wir cine Nation?

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das jeder Narr für sich in Anspruch nimmt, wird ihm bestritten, was etwa der deutschen Politik nach außen nicht gelungen zu sein scheint, ihm auf die Rechnung gesetzt. Und doch bedarf kein Volk bedeutender Männer als seiner Führer so dringend wie das deutsche, dessen Volksvertretung seit Jahrzehnten so jämmer­lich unfruchtbar und gedankenarm ist. Aber wir scheinen bedeutende Männer an unsrer Spitze weder ertragen noch entbehren zu können. Wir trauern um die, die wir gehabt haben, und machen denen, die wir haben, das Leben möglichst sauer; wir wollen nicht einmal sehen, daß ein Volk, das immer nur von großen Männern regiert werden will, sich selbst das Urteil spricht, denn solche sind ein unverdientes Geschenk der Vorsehung, sie können nicht gezüchtet werden.Die Geschichte erzieht das Genie, aber sie schafft es nicht."

Eine Nation in politischem Sinne sind wir also wirklich noch nicht. Ob wir Aussicht haben, eine zu werden?

Was uus Zweifel daran erweckt, das ist nicht gerade die augenblickliche Lage, das ist die Erkenntnis, daß alte Schwächen, alte schlechte Eigenschaften unsers Volks, die seine Entwicklung immer wieder verdorben haben, die nur in großer Zeit unter der Führung großer Männer zurückgetreten sind, daß diese jetzt, wo die dringendsten nationalen Aufgaben gelöst sind, wo wir mächtig und reich geworden sind, wieder hervorbrechen: der kleinliche, zähe Sondergeist und der unbelehrbare Doktrinarismus, das Besserwisscn und die Nörgelsucht, die Parteiwut und die Schwäche des nationalen Bewußtseins. Gutmütige Leute meinen freilich, das alles werde sich schon noch geben, die deutsche Einheit sei noch zu jung, das Volk müsse sich erst in die neuen Aufgaben hineinfinden. Wenn uns unsre lieben Nachbarn dazu nur die nötige Zeit lassen! Die Gegen­wart lebt schnell. Wir sind im Osten und im Westen von Feinden und Neidern umgeben und haben außer Österreich keinen zuverlässigen Bundesgenossen, denn Italien ist als solcher mehr als unsicher. Frankreich ist nur zu schwach, um uns allein anzugreifen, aber es stützt sich auf England, das freundnachbarlich den Kern seiner Flotte in der Nordsee, also gegen uns konzentriert; Rußland ist zwar nicht unser Feind, aber auch nicht unser Bundesgenosse und ist über­dies seit langer Zeit so mit innern Schwierigkeiten beschäftigt, daß es zu jeder großen Aktion nach außen unfähig ist, und wie sich ein konstitutionelles Ruß­land zu uns stellen wird, das weiß kein Mensch. Der Hauptgegensatz besteht also zwischen uns und England. Er ist aber nicht eigentlich politisch, sondern wirtschaftlich. Deshalb ist unsre Situation nicht durch irgendwelche Fehler der Reichsregierung herbeigeführt worden, wovon genügend, bis zum Überdruß ge­redet worden ist, ohne daß solche jemals wirklich nachgewiesen worden wären der ärgste Fehler waren die leidenschaftlichen, von Haß gegen England er­füllten burenfreundlichen Kundgebungen des deutschen Volks, nicht der Re­gierung oder glaubt man, daß mehr erreicht worden wäre, wenn statt der Höflichkeit und Artigkeit, die der Kaiser so gern und so reichlich den Franzosen und den Engländern erwiesen hat, Grobheiten und eine herausfordernde Haltung