Die magyarische Anabhängigkeitsbewegung und der österreichische Reichsgedanke
von Julius Patzelt in Wien
ie politischen Verhältnisse in der österreichisch-ungarischen Monarchie haben sich in der letzten Zeit so verschlechtert, daß nicht nur die rein menschliche Teilnahme an dem Schicksale des alten Habs- bnrgerreichs sondern auch Erwägungen der praktischen Politik den Gang der Ereignisse an der mittlern Doncm mit gespanntem Interesse verfolgen lassen. Es wäre verfrüht, das, was sich gegenwärtig in Lsterreich-Ungarn vollzieht, schon als einen Auflösungsprozeß zu bezeichnen. Das Reich hat im Laufe der Jahrhunderte wiederholt ähnliche schwere Krisen glücklich überstanden, und die Möglichkeit einer Wiedergeburt ist sicher nicht ausgeschlossen, aber nur ein geradezu wunderbares Zusammentreffen persönlicher Tüchtigkeit der Regierenden mit außerordentlich günstigen äußern Verhältnissen vermag noch die Katastrophe zu verhindern und den Pessimismus zuschanden Zu machen, der aus dem gegenwärtigen Chaos schon die Keime neuer Staatenbildungen sich entwickeln sieht.
Die staatsrechtliche Grundlage der Monarchie bildet bekanntlich die Pragmatische Sanktion vom Jahre 1723, die die Thronfolge in den Habsburgischen Ländern regelte und zugleich diese als unteilbar erklärte. Der ungarische Reichstag hatte in dem genannten Jahre diesem Grundgesetze zugestimmt, jedoch unter Anfrechterhaltuug der sonstigen staatsrechtlichen Selbständigkeit Ungarns, sodaß dieses mit den übrigen Habsburgischen Ländern nur durch die Person des Herrschers und den Zweck der Verteidigung und der Aufrechterhaltung der gemeinsamen Sicherheit verbunden war. Dieser Zweck setzte die einheitliche Leitung der auswärtigen Politik und des Kriegswesens voraus, und diese Gemeinsamkeit der beiden Reichshälften wurde bis auf die jüngste Zeit auch von der ungarischen Seite niemals bestritten, sondern im Gegenteil in
Grenzboten III 1906 68