436
Junge Herzen
Da die Mutter nur eine kleine Pension erhielt, und dies alles war, wovon die Familie leben mußte, suchte Helene nach einem Ausweg. Da las sie denn eines Tages in der Zeitung folgende Annonce: „Ein anspruchsloses junges Mädchen kann zum ersten Mai Stellung als Erzieherin für zwei kleine Mädchen uud einen Knaben (im Alter von vierzehn, elf und neun Jahren) bei einer gebildeten Familie in einer schonen, ländlichen Gegend an der Ostküste von Jütland erhalten. Sie muß außer in den gewöhnlichen Unterrichtsgegenständen auch in Gesang und Musik unterrichten können. Gehalt 250 Kronen jährlich, eignes Zimmer und freier Aufenthalt im Schoße der Familie. Sie wird, falls sie es wünschen sollte, auch Gelegenheit haben, sich im Haushalt, unter der tüchtigen Anleitung der Hausfrau, auszubilden. Selbstgeschriebnes Angebot unter Chiffre ^loblc-ssö MjZo 717 nimmt im Laufe der nächsten acht Tage die Expedition dieses Blattes entgegen."
Das war gerade das, was sich Helene wünschte.
Wie es schien, wurden ja keine übertrieben große Anforderungen an sie gestellt. Und 250 Kronen im Jahr außer all dem andern — das war ja geradezu brillant! Und dann — aufs Land zu kommen, frei von dem langweiligen Treiben der Großstadt! Es schwindelte ihr bei dem Gedanken.
Mit ihrer feinen Handschrift schrieb sie ein Billett, stutzte einen Augenblick, als sie die sonderbare Adresse machte, und trng es dann selbst in die Zeitungsexpedition. Wenn sie die Augen gesehen hätte, mit denen der tintenbekleckste Schreiber von seinem fürchterlichen Löschblatt aufsah und ihren unbewußt strahlenden Blick beantwortete, würde sie uicht an einem glücklichen Ergebnis gezweifelt haben. Sie achtete jedoch dieses Omens nicht, sondern war sehr zaghaft. Es würden sich natürlich unzählige Bewerberinnen für diesen Platz melden.
Da wurde sie eines Tages durch einen Brief aus der Schwanenapotheke in Nakkerup überrascht, der Henriette Lönberg unterzeichnet war und eine Annahme ihres Anerbietens enthielt.
Sie hatte jeden Morgen dem Postboten aufgepaßt, und als er ihr den Brief überreichte mit der fremden, ein wenig geschnörkelten Handschrift und dem großen roten Siegel mit einem Schwan, da sandte sie ihm einen Blick zu, der seinen Weg die vielen Treppen hinauf und hinab bedeutend erleichterte.
Sie erbrach das Siegel, überflog den Inhalt und lief direkt gegen einen ältern Herrn an, der seinen Morgenspaziergang machte und mit einem: Aber mein Gott, Fräulein! gegen eine Hauswand taumelte. Als aber Helene ihn mit ihrem ausdrucksvollsten Lächeln um Verzeihung bat, war sein Zorn sogleich besänftigt. Dann prallte sie an eine Dame an, die in der Hand ihr kleines Netz trug, worin sie „matte" Hechte für ihr Pensionat einzufcmgen Pflegte. Ein scharfes: Na. die Straße ist doch breit genug, sollt ich meinen! jagte Helene in die Flucht. Dann war sie die Treppe hinauf und in die Stube hinein.
Auf dem Sofa saß die Mutter, und vor ihr stand die alte Dienerin des Hauses, Katrine, und legte Rechenschaft ab, indem sie die Ausgaben von einer alten rahmenlosen Tafel, die einen Sprung hatte, ablas. Ganz entsetzt ließ sie sie fallen, als Helene ins Zimmer gestürmt kam.
Aber Helene! sagte die Mutter, nun ist sie in zwei Stücke zerbrochen!
Das schadet gar nichts, sagte Katrine, die immer die guten Seiten bei allem entdeckte. Fran Rörby haben ja so oft gewünscht, daß wir jeder unsre Tafel hätten; jetzt ist der Wunsch in Erfüllung gegangen!
Betty stand vor ihrer Schultasche, im Begriff, die Riemen zuzuschnallen, um in Fräulein Kaspersens höhere Töchterschule zu gehn.
Helene blieb atemlos vor der Mutter stehn und überreichte ihr den Brief, nachdem sie ihr erzählt hatte, daß es die Antwort auf die Annonce sei.
Als die Mutter den Brief vorgelesen hatte, rief sie: Soll ich mein Kind verlieren?
Mutter, sagte Betty, die die Vernunft im Hause vertrat, ich finde, Helene