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Schnlfragen
Pauk- und Triezanstalten, daß sozusagen niemand mehr, zumal auf den obern Klassen, sitzen bleibt, niemand mehr im Abiturium durchfällt.")
Jene Fächer können ja manchen Schwächling zurückhalten und halten ihn auch tatsächlich zurück; aber wie schwer wird es den Lehrern gemacht, die sie vertreten, wie wird die Freude an der Schule ihnen vergällt! Zunächst stehn sie in der Regel allein und sehen sich vergeblich nach einem Bundesgenossen um. Die Mathematik, die ich von meiner Schulzeit her als eine Wissenschaft verehre, die uns zeigt, wer scharf erfassen, leicht begreifen, sicher schließen, richtig anwenden kann, die mit einem Wort den klaren, spekulativen Kopf erkennen läßt, die sich also mit den oben genannten Fächern in manchem berührt und für die Beurteilung der Schüler häufig, ich sage nicht immer, mit ihnen harmoniert, sie ist vielfach von ihrer Höhe gesunken und hohler Gedächtniskram geworden.**) Ein so widerwärtiges Herplappern von Formeln und Beweisen, wie ich es an manchen Anstalten gefunden und aus Briefen von Bekannten gehört habe, kommt in keinem andern Unterrichtsfach vor und müßte als Unfug gerügt, nicht als vorbildliche Leistung prüdiziert werden. In dem Brief eines Freundes lese ich: „Ich habe Unterrichtsstunden beigewohnt, in denen die Antwort schon erfolgte, ehe die Frage kaum noch gestellt war, Schlag auf Schlag, in denen, im andern Bilde gesprochen, ein Hagel von Kenntnissen herniedersauste, für den Laien — und das sind sie in der Regel alle — unfaßbar und über alles Lob erhaben — swxst li^so, <Mi jain xost tei-Ag. rsliauit ssxÄAintg. tmnos, würde Jnvenal sagen..." Was zeitigt dieser Unterricht? Glänzende Erfolge. Kunz und Hans prangen mit 1 und 2, das dritte Prädikat ist ziemlich selten, 4 und 5 sind nicht bekannt. Und doch weiß jeder, daß das Mittelmaß die Welt regiert, daß die Extreme selten sind (vgl. Platos schönes Kapitel über die ^o-o/i-o^«). Die Zensur „genügend," oder wie es früher hieß, „ausreichend" und „ziemlich befriedigend" muß demnach nicht nur vorkommen, sie muß sogar häufig, ja am häufigsten vorkommen — wenn eben die Schnle auch in diesem Punkte dem Leben dienen soll und nicht dem Schein, wenn sie jedem zeigen soll, auf welchen Platz er gehört, welchen Platz im öffentlichen Leben er einzunehmen befähigt ist. Wehe der Schule, wenn sie durch das leidige Pauksystem und den Götzendienst des Erfolgs der Torheit und der Dummheit zu leichtem Avancement verhilft, wenn sie geistesarmen Schülern, die in den Stunden, in denen das Denken großgezogen und geübt wird, vollständig versagen, den Nimbus anerzieht, daß sie „berufen" sind, wenn sie die Eltern dazu verleitet, ihren Söhnen ein Studium freizugeben, dem sie durchaus nicht gewachsen sind! Das Ende ist im besten Falle so, wie es Frau Wegscheidcr-Zieglcr in ihrem Vortrag über „Alkohol und Erziehung"
*) Der Abgeordnete Gothein sagte vor einiger Zeit im Parlament: „Zu unsern Zeiten, als ich selbst noch die Schulbank gedrückt habe, war die Belastung nicht entfernt so groß wie heute, und trotzdem bin ich ganz zufrieden damit, daß ich sitzen geblieben bin und nicht nötig gehabt habe, in dieser Hetzjagd die Klassen durchzumachen. Ich halte das für gar kein Unglück. Ich glaube, man reserviert sich dadurch etwas geistige Spannkraft für später."
Vgl. Geislers Aufsatz: „Wann verliert die Mathematik. . . ihren Wert?" in den Neuen Jahrbüchern für das klassische Altertum, 190S, Maiheft.