Schulfragen
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nicht neben dem Mangelhaften, das ja allem menschlichen Wesen, auch dem revidierenden anhängt, auch das Gute sehen und anerkennen? Könnte nicht mehr erfreuliche und ermunternde Anregung von dieser Tätigkeit ausgehn? Könnte nicht in aller Kritik etwas mehr Freude am Sonnenschein vorwalten und etwas weniger Behagen am erkältenden Schatten?"
Hier hört man einmal von einem, der es wissen kann, daß auch die obern Instanzen nicht immer Recht haben, hier spricht einmal einer ans den heitern Regionen, und zwar der besten einer, wie ein Mensch zu Menschen, nicht wie einer aus der Zens der gerechten Kammacher zu „andern Wesen." Wie wohl tun solche Worte an sich, wie wohl unserm Stande, der ja immer Unrecht hat, wenn der Erfolg versagt, wie wohl aber erst denen von uns, die das Regime, wie es Matthias schildert, am eignen Leibe erfahren haben und nun verbittert, resigniert, gleichgiltig geworden sind, die Freude an der Arbeit verloren haben!
Jeder von uns weiß, daß die Freude am Erfolg das Leben im Unterricht bedeutet, und jeder unterrichtet danach das Kind und den fröhlichen Knaben. Aber der Jüngling schon soll und muß sich selbst erkennen, er muß wissen, wenn er ein Gymnasium besucht, daß es eine Ningschule des Geistes ist, nicht eine „Anstalt" zum Massendrill mit absolutem Erfolg; er darf nicht bloß auswendig lernen und mit belastetem Gedächtnis frei und leicht von Klasse zu Klasse bis zum „Ziel der Anstalt" emporsteigen, er muß seinen Geist allseitig bilden, er muß Hemmnisse und Schwierigkeiten finden zur Stählung des Willens, er muß denken, fühlen, urteilen lernen. In welchen Stunden lernt er das? Nicht sowohl in den Fächern, in denen Gedächtnisstoff übermittelt wird,*) sondern im Unterricht im Deutschen und in den fremden Sprachen. Wie fruchtbar er für die Bildung unsrer Jünglinge ist, brauche ich nicht auszuführen; ich wünschte jedem, daß er Muffs Rede über Sophokles in der Schule auf der letzten Philologenversammlung in Halle gehört hätte. Eine so unmittelbar von Herzen kommende, frei vorgetragne, mit prophetischer Begeisterung gesprochne Rede habe ich noch nie gehört.""") Im deutschen, griechischen, lateinischen Unterricht liegen Schätze von Gold und Edelstein, Schätze des Wahren, Guten, Schönen; aber sie wollen gehoben und herausgeholt sein aus der Tiefe, mit heißem Bemühen, mit Anspannung der Kraft. Hier auf dem eigentlichen Felde des Gymnasiums kann sich das geistige Ringen entfalten wie nirgends sonst, hier ist nicht auswendig zu lernen, was „mundgerecht" gemacht und vorgekaut ist, hier hat jeder selbst zu suchen und kann zeigen, was er zu leisten imstande ist. Hier auf diesem Bodeu ist deshalb noch möglich, was den modernen Anstalten bei der stark entwickelten Individualität der Schüler und der Eltern, bei der hohen methodischen Schulung der Lehrer und der Schüler ziemlich fremd geworden ist, und was doch so natürlich ist und früher auch ohne die nervöse Empfindlichkeit von heute hingenommen wurde, daß jemand einmal ausgleitet, fällt, liegen bleibt, wieder aufsteht oder — auch nicht. Es ist ein Krebsschaden, der an unsern Gymnasien frißt, eine Degradierung zu
Ich weiß sehr wohl, wie der Unterricht in der Religion und der Geschichte aus die Seele wirken, wie die Seele hier zur Seele sprechen könnte; häufig — geschieht es anders.
Die Rede ist gedruckt in den Neuen Jahrbüchern für das klassische Altertum, Jahrg. 1904.