Maßgebliches und Unmaßgebliches
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vor kurzem fast cmsnahmslvs unserm Pietismus. Mönchtum und Pietismus aber entspringen beide der gleichen Geistesrichtung. Beiderseits handelt es sich bei den echten Glaubensboten um die Nachfolge des Weltenrichters, der das, was den geringsten seiner Brüder erwiesen wird, als ihm selber erwiesen ansieht. Wir haben hier die echte Grundlage des Humanitätsgedankens in der Solidarität der Menschheit. Aber es ist allerdings zugleich der schlechtsinnige Mechthinige?) Gegensatz zu dem Nietzschischen Übermenschentum, das die Taten eines Pizarro auch bei uns landesüblich gemacht hat. Denn die echte Mission geht gerade davon aus, daß auch in den Verwahrlosesten und Verachtetsten das göttliche Ebenbild geachtet und soweit möglich wiederhergestellt wird." Das und viel andres in der Broschüre ist gut und richtig, aber zu einem Urteil über Anzer, seine Tätigkeit und die Haltung der hohen Reichsbehörden in den chinesischen und den afrikanischen Angelegenheiten reicht das von Nippold vorgelegte Material nicht hin. Ein vollkommen sichres Urteil konnte man wohl überhaupt nicht auf Grund von Schriftstücken fällen, sondern nur, wenn man China und Afrika aus eigner Anschauung kennen gelernt hätte. Den Eindruck macht das Mitgeteilte allerdings, daß Anzer mehr herrschsüchtiger Kirchenfürst — großer Zivilmandarin — und schlauer Diplomat gewesen ist als seeleneifriger, demütiger, entsagender Apostel.
Dichterische und wissenschaftliche Weltansicht. Unter diesem Titel hat I. Baumann, ordentlicher Professor der Philosophie in Göttingen (Gotha, Friedrich Andreas Perthes, 1904), Charakteristiken von Dichtern und Dichterwerken und Urteile von Dichtern über ihren eignen Wert und den ihrer Werke in großer Menge zusammengestellt, um der Selbstüberschätzung der „Modernen" entgegenzutreten. „Die neueste Dichtung erhebt den Anspruch, Wissenschaft uud Poesie in eins zu arbeiten, Poesie als Wahrheit neben oder über die wissenschaftliche Wahrheit zu stellen, und einigermaßen hat die Poesie immer diesen Anspruch erhoben. Bewährt sich diese Annahme an Beispielen großer von allen als solche anerkannter Dichter?" Die Antwort lautet: nein. Unter den Dichtern selbst gibt es einzelne, die ihre Leistungen ganz nüchtern abgeschätzt haben. So Walter Scott, der die Literatur nur als ein Zierat des Lebens betrachtete, die Tätigkeit eines Generals, Richters, Staatsmannes für wertvoller erklärte als die des Dichters und meinte, seine Romane seien nicht würdig, in einem Atem genannt zu werden mit Davys Sicherheitslampe oder mit Watts Verbesserung der Dampfmaschine. Shakespeares Dramen hat man der darin enthaltnen Gelehrsamkeit wegen Bacon zuschreiben wollen. Baumann weist nach, daß diese Gelehrsamkeit gar nichts Erstaunliches hat, und daß Shakespeare hinter dem Wissen seiner Zeit, das er sich aus einigen Büchern leicht aneignen konnte, in mancher Beziehung zurückgeblieben ist. „Nach Grillparzer war er in erster Linie Theatermann (Schauspieler uud Theaterunternehmer), uud nur weil er ein Genie war, ist er hinter seinem Rücken der größte Dichter geworden." Bei der Wahl der Stoffe richtete er sich, um sich den Erfolg zu sichern, nach der gerade herrschenden Mode. Sein Ziel war, beim Theater so viel zu verdienen, daß er Gutsbesitzer werden konnte. Als solcher hat er sich auch an den schon von Thomas Morus beklagten Einzäunungen beteiligt, d. h. am Raub des Gemeindelandes. Ibsen und andre neuere Dichter richten nach Baumann dadurch Schaden an, daß sie von einem Teile des Publikums für wissenschaftliche Autoritäten angesehen werden, und daß die wissenschaftlichen Ansichten, die sie verbreiten, zum Teil falsch sind. Gegenüber den Ansprüchen der Ästheten und Dekadenten wird betont, daß man die Wahrheit bei den Wissenschaften suchen müsse, und Nordaus Wort gelobt: „Der Fortschritt ist die Wirkung immer härterer Bezwingung des Tieres im Menschen, immer strafferer Selbstzügelung, immer feinern Pflicht- und Verantwortlichkeitsgefühls — die Emanzipation des Urteils, nicht der Begierde." Die Dichtung könne zwar nichts beweisen, immerhin aber Gutes wirken, wenn sie einer gesunden Ausicht oder Empfindung einen packenden Ausdruck verleihe und so die Wissenschaft und die Moral unterstütze.