Über das preußische Wohnungsgesetz
itleid ist ein schlechter Arzt, Wenn Menschen jemand, den sie lieb haben, leiden sehen, z, B. an einer schweren Krankheit, so suchen sie zu helfen, und jeder Teilnehmende hat sofort ein Mittelchen bereit, jeder ein andres, der eine Luft, der andre Wasser, der eine Kräuter, der andre Pillen. Wenn aber der Arzt kommt, dann wehe, wenn er nicht mehr weiß als Mitleid und nur zu jedem Vorschlage nickt! Sagt er vielleicht: Ich weiß keine Hilfe, dann werden alle Angehörigen antworten: Welche Hartherzigkeit! Seht doch dieses Leiden an! Da muß es doch Hilfe geben. Diese naive Wendung: So groß ist die Not, da muß es doch Hilfe geben, spielt auch in den sozialpolitischen Erörterungen eine große Rolle. Auch der deutsche Wohnungskongreß wurde, nachdem die Kritik aller kleinen Mittel einen schlechten Eindruck gemacht hatte, von zwei geistlichen Herren wiederum auf die Höhe der sozialen Stimmung gehoben, wodurch? Durch eine ergreifende Schilderung der Wohnungsnot. Aber Mitleid ist ein schlechter Arzt, uud von einem Kongreß erwartet man mehr als Mitleid, nämlich Hilfe, und zwar solche, die hilft. Die aber darf sich nicht allein mit ihrem guten Herzen ausweisen, sondern mit ihrem klaren Verstände.
Das Mitleid, d. i. die humane oder soziale oder christliche Gesinnung, ist im Staatsleben mit einem Fluch beladen. In England hat es zwei Jahrhunderte lang eine Armengesetzgebung gegeben, die verlangte, daß jeder Arme auf Gemeindekosten erhalten werde, daß er um so mehr Barzuschuß bekäme, je mehr Kinder er hätte, daß ihm, wenn er keine Arbeit fände, Arbeit gegeben würde. Nachdem das Gesetz zwei Jahrhunderte gewirkt hatte, war die Folge die, daß die Zahl der unterstützungsbedürftigen Armen ins ungemesfene gestiegen war, ebenso natürlich auch die Armenlasten, die der Grundbesitz aufzubringen hatte. Unter dieser Armenlast war der Kleinbesitz zum größten Teil eingegangen. Der kleine selbständige freie Arbeiter, der ohne öffentliche Hilfe von seiner Hände Arbeit lebt, war aus dem Lande wie ausgefegt. Sein Leben war zu teuer, als daß er mit den von der Gemeinde unterstützten Armen Hütte konkurrieren können. Die Ortsarmen wurden ja rudelweise jedem Arbeitgeber angeboten, und jeder Arbeitgeber war durch die Konkurrenz gezwungen, sie zu nehmen. So wurde der selbständige Arbeiter und Kleinwirt zu einer Seltenheit im Lande. Grenzboten Hl 1905 29