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Gall redivivus
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Gall rsäivivus

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meint sei. Auch wenn man die Moralität auf Kants kategorischen Imperativ, d. h. deutsch geredet aufs Pflichtgefühl beschränken wollte, so wäre mit diesem Worte noch gar nichts gesagt, denn der unbedingte Gehorsam des preußischen Soldaten wie der des Jesuitenzöglings sind beide Äußerungen strengen Pflicht­gefühls. Die vermeintlich autonome Moral Kants ist nämlich die allerhete- ronomste, weil das Pflichtgefühl in neunundneunzig von hundert Fällen nichts andres ist als die Gewohnheit, den eignen Willen einem fremden unterzuordnen. Wo aber dieses Gefühl wirklich einmal mit Autonomie verbunden zu sein scheint, weil es von einem Manne in gebietender oder wenigstens unabhängiger Stellung gehegt wird, da kommt nicht bloß ein großer Friedrich, sondern unter Um­ständen auch ein Torqnemada, ein Nobcspierre, ein Nietzsche heraus; jeder von diesen dreien hat nur der innern Stimme gehorcht, die die Stimme seiner prak­tischen Vernunft war; das Pflichtgefühl sagt uns ja nicht das mindeste davon, was für uns Pflicht sei. Eine gewisse Übereinstimmung kann zwischen den ethisch verschieden Angelegten höchstens vielleicht in negativer Beziehung erreicht werden, in der Bestimmung der Greuze, über die hinaus die verschiednen Triebe nicht wirken können, ohne unmoralisch zu werden. Man könnte zum Beispiel vereinbaren: die notwendige Härte des militärischen Vorgesetzten darf nicht in Befriedigung eines persönlichen Grausamkeitsgelüstes ausarten; die Fügsamkeit des Untergebnen darf sich nicht zum hündischen Kriechen steigern; die im Kriege, im Konkurrenzkampfe, im Ringen der Parteien erlaubte List darf nicht zur all­gemeinen Lebeusgewohnheit werden nnd alle Beteiligten zu verlognen Menschen machen. Aber es hieße offenbar Undurchführbares fordern, wenn man als Moralgebote die folgenden aufstellte: Kein Mensch darf hart, jedermann, auch der Hausknecht, der kleine Beamte und der Hausierer muß ein unbeugsamer Charakter sein; und wenn man die Welt nur durch eine kleine Lüge vor dem Untergange retten könnte, so müßte man sie, wie Anselm von Canterbury meinte, ruhig uutergehn lassen. Unsre sozialen Schwierigkeiten können u. a. aus dem Grunde nicht gehoben werden, weil man an der Fiktion festhält, auch in einem übermäßig differenzierten Grvßstcmt müßten alle Bürger gleiches Recht und gleiche Pflichten haben wie die Hirten von Uri. Gleiche Rechte und gleiche Pflichten haben gleiches Verhalten zur Folge, zum Beispiel daß der Soldat die Ohrfeige zurückgibt, die er vom Vorgesetzten bekommt, und gleiches Verhalten setzt gleiche Charakteranlagen voraus oder schafft sie, indem die angenommene Gewohn­heit des Handelns und Denkens die dazu gehörigen Hirnzellen bildet. Mit andern Worten: Menschen, die mit der Vorstellung der Gleichberechtigung aller aufwachsen, verlieren die Fähigkeit, sich in die Stellung des gehorsamen Unter­gebnen zu fügen.

Endlich noch eins! Vor Jahren ist einmal in einem pädagogischen Grenz- botenaufsatze die einseitige Begabung und die einseitige Talentlosigkeit geleugnet worden; es gebe nur gescheite und dumme Jungen, und wenn ein gescheiter in einem einzelnen Fache nichts leiste, so sei böser Wille oder Faulheit daran schuld. Das widerspricht aller Erfahrung; die auffälligsten, wenu auch bei weitem nicht die einzigen dagegen sprechenden Tatsachen sind, daß arithmetische Wunderkinder und erwachsene Rechenkünstler meist im übrigen unbegabt, höchstens gewöhnlich