Die russischen Hungersnöte
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Verdienen die „Herrschaften" kaum noch — ist vielfach ganz entsetzlich. Die Landflucht ist dafür die gerechte Strafe. Aber viel größer ist die Sünde derer, die heute alles thun, den Leuten, Bauern wie Rittergutsbesitzern, die Erkenntnis der eignen Schuld zu erschweren, mögen es Minister sein oder bezahlte Wanderagitatoren des Bundes der Landwirte. Im Hausgesindedienst, dem ländlichen wie dem städtischen, hat der Verfall des rechten, pflichtmäßigen Wohlwollens vollends verwüstend gehaust; natürlich, da hier das sittliche Auseinanderrücken im schroffsten, unverträglichsten Gegensatz steht zu dem äußern Sichnahestehn. Es ist vielfach schon so weit gekommen, daß Dienstherrschaften es für erlaubt und klug halten, Dienstboten durch bewußte Duldung eines unsittlichen Lebenswandels an den Dienst zu fesseln. Auch im landwirtschaftlichen Arbeitsver- hültnis hört man schon diese Gottlosigkeit als soziale Weisheit preisen. Wie schwer man sich damit selbst schädigt, liegt ans der Hand.
Es könnte überhaupt erwartet werden, daß hier das eigne wohlvcrstandne Interesse der Arbeitgeber ins Treffen geführt würde, um für eine bessere Fürsorge für die Jugend zu plädieren. So wahr es ist, daß sich diese Fürsorge schließlich auch materiell verlohnt, so hat die Militaristische, materialistische Argumentation nachgerade genug Verwirrung in den sittlichen Anschauungen angerichtet, und wir unterlassen sie. Es ist die höchste Zeit, dem Volk wieder klar zu machen, daß der Einzelne seiner sozialen Pflicht genügen muß als einein unbedingten sittlichen Gebot, um Gottes willen, nicht um Gewinnes willen; daß es eine Sünde und er ein schlechter Kerl ist, wenn er sich ihr entzieht, und daß er als solcher von der wirklich „guten" Gesellschaft behandelt werden soll, mag er Geheimrat oder Zwischenmeister sein, eine Million jährlich zu verzehren haben oder fünfzehnhundert Mark.
(Schlub folgt)
Die russischen Hungersnöte
(Schluß)
as leisten nun die Behörden in der Bekämpfung des Übels und in Vorbeugungsmaßregeln? Guten Willen und Eifer bezeugen nach Lehmann die Semstwos oder Landschaften, die gewählten Selbstverwaltnngskörper der Gouvernements und Regierungsbezirke. Sie haben sich „zum Teil viel Mühe gegeben, das
Volk physisch uud moralisch zu heben. Sie haben auch in manchen Gegenden schon recht schöne Erfolge auszuweisen. Auf alle Fälle thun sie in Sachen der Volksanfklärung weit mehr, als der obersten Staatsbehörde und dem