Die Fürsorge für die Arbeiterjugend
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über diese Borgänge nachzudenken. Er habe offne Ohren gezeigt für die „neuen politischen Theorien/' die aufkamen und ihm das alles erklärten. Das habe die Verwirrung nur noch größer geinacht. Um das Maß vollzumachen, habe sich zugleich auf fast allen Gebieten eine Knmpfesstiminnng entwickelt. Nicht durch friedlichen Ausgleich der Interessen, sondern im Kampfe um sie suche man die Lösung der bestehenden Schwierigkeiten.
So schildert in der Hauptsache Dr. Voigt die neuen Verhältnisse, die das neue Problem der Fürsorge für die aus der Schule Entlassenen geschaffen hätten, und er hat in der Hauptsache die Wirklichkeit getroffen. Es ist wahr, durch die gewaltigen Umwälzungen, die die Fortschritte der Technik seit anderthalb Menschenaltern in den Produktions- und Verkehrsmitteln bewirkt haben, sind die vom Willen nnd vom sittlichen Pflichtbewußtsein der Einzelnen unabhängigen „Verhältnisse" anders geworden zum Nachteil der Erziehung der Arbeiterjugend, und neue Veranstaltungen haben sich deshalb als unerläßlich herausgestellt. Sie fallen einerseits dem Staat und der ihm dienstbaren Selbstverwaltung zu, andrerseits der freien Vereinsthätigkeit, uud schon ihr Umfang läßt die Sorge für ihre zweckmüßige Gestaltung in der That als eine neue Aufgabe, ein „modernes Problem," wenn man so sagen will, erscheinen.
Aber damit ist die Aufgabe, vor der wir auf diesem Gebiete stehn, doch noch nicht erschöpft. Mit neuen Veranstaltuugen des Staats, der Gemeinden uud andrer Sclbstverwaltungskörper und der privaten Vereinsthütigkeit ist schwerlich hinreichend geholfen, wenn nicht den Einzelnen die ihnen obliegende sittliche Pflicht besserer Fürsorge für die jungen Leute wieder zu lebendigem Bewußtsein gebracht, ihnen ihre persönliche unmittelbare Bethätigung wieder anerzogen wird. Es scheint nur nicht zweifelhaft, daß wir in dieser Beziehung in den letzten vierzig Jahren viel mehr Rückschritte gemacht haben, als sich durch die Veränderungen der äußern Verhältnisse erklären oder gar entschuldigen läßt, nnd daß diese ins sittliche Gebiet fallenden, den Einzelnen zuzurechnenden Rückschritte an dem .Übeln Zustande, vor dem wir jetzt erschrecken, einen sehr großen Teil der Schuld tragen. Nnd ebenso wenig zweifle ich daran, daß unsre modernen Sozialpolitiker, die fast immer nur von diesen Veranstaltungen des Staates, der Gemeinden und der Vereine zu sprechen wissen, die Eiuzelneu in der eingerissenen Vernachlässigung ihrer sittlichen Pflicht im allgemeinen mehr bestärken als zur Pflichterfüllung zurückführen.
Es ist deshalb sehr erfreulich, daß Dr. Voigt Veranlassung genommen hat, im Anschluß an seine vortreffliche Darlegung der veränderten Verhältnisse „die weitverbreitete Abneigung" zu beklagen, „an ethische Momente zu appellieren, überhaupt sich an den einzelnen Menschen zu wenden." Alles solle „geregelt" werden, „Rechte" sollten geschaffen werden; von der Erwecknng des sozialen Geistes, von der philanthropischen Gesinnung der Unternehmer werde wenig oder nichts erwartet. Das Gegensätzliche der Interessen werde in den Vordergrund gestellt, und aus dem Kampfe dieser solle die neue Ordnung der Dinge hervorgehu. Sogar die sogeuannte „ethische" Richtung der Nationalökonomie