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Die russischen Hungersnöte
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Die russischen Hungersnöte

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keit habe dieses Vorurteil erzeugt: der Muschik arbeitet mit dein Typhus im Leibe, bis er umfällt. Vvu den Männern sind nach Nowikow auch außerhalb des Hungergebiets infolge ihrer elenden Lebensweise nur wenige ordentlich gesund, die Frauen aber mit wenig Ausnahmen alle krank.

Aus den Zeiten der Pest und großer Hungersnöte berichteu uns Ge­schichtschreiber des Altertums und des Mittelalters, daß Furcht und Ver­zweiflung alle sittlichen und gesellschaftlichen Bande gelost hätten. In Ruß­land ist das, wie die Verfasser hervorheben, nicht der Fall. Es geht dort alles seinen ruhigen, stillen Gang, die Familien bleiben bei einander, soweit nicht einzelne ihrer Mitglieder ins Krankenhaus gebracht werden, trotz des Stumpf­sinns, den das Übermaß der Leiden erzengt, kommen Fälle rührender Auf­opferung von Armen für noch Ärmere vor, und rührend ist auch die Opfer­willigkeit, ja der Opferenthusiasmus, mit dem sich junge Leute der bessern Stände aus den Städten: Mädchen, Studenten, Gymnasiasten ins Hunger­gebiet begeben, um bei der Speiseverteilung und Krankenpflege zn° helfen. Ihre Leiden nehmen die Leute als Schickung Gottes und Sündenstrafe mit Ergebung hin, und ihre unzureichenden Brot- uud Suppenportionen verzehren sie mit Dank gegen Väterchen Zar, der sie ihnen schickt, und ohne den sie, wie viele den beiden gesagt haben, umkommen müßten. Angeborne Gutmütig­keit, anerzogne Geduld und Gewohnheit zu leiden sind der eine, die Religion der andre Qnell dieser Ergebung; den Anteil eines jeden an der Wirkung ab­grenzen zu wollen, würde vergebliche Mühe sein. Jedenfalls macht sich der Unterschied der Religion in den Tatarendvrfern bemerkbar. Zwar die stumpf­sinnige Ergebung ist hier so groß wie bei den Russen, nur daß die Tataren nicht so weit gehn, von Dank gegen den Zaren überzufließen, aber in zwei Beziehungen wirkt der Islam sehr ungünstig. Einmal durch die Speisegesetze und die vielen Fasttage, die bewirken, daß die Kost der Tntaren uoch ein­förmiger ist als die des russischen Muschik, und daß jene schon in guten Zeiten schlechter genährt sind als dieser. Dann dadurch, daß die Tatarenfran vom Manne nicht als Gehilfin, sondern als Besitzstück uud Luxusgegenstand an­gesehen und behandelt wird; das hat zur Folge, daß der Mann nicht den letzten Bissen mit der Frau teilt, sondern allein aufißt, daß die Frauen und Kinder bedeutend mehr leiden als die Männer, und daß deshalb bei den Ta­taren die Hungersnot noch ungünstiger ans das nächste Geschlecht einwirkt als bei den Russen.

Lehmann erinnert an eine Unterredung des französischen Arztes Tissiers mit Oskar II. von Schweden und seinem Leibarzt. Dieser erzählte dem fran­zösischen Kollegen, Schweden habe jedesmal ein schlechtes Nekrutierungsjahr, wenn im Geburtsjahr der Rekruten Notstand geherrscht habe. Der König be­stätigte das und fügte hinzu : eoi^erixtion clöpsnä äk ia eoinzsption. Gute Ernährung ist selbstverständlich die erste und wichtigste Bedingung der Gesund­heit und bei Hungerkrankheiten das einzige Heilmittel; der Skorbut weicht, sobald der Kranke gut und satt zu essen bekommt, ohne alle Medikamente, und