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Skizzen ans unserm heutigen Volksleben
werk gehn oder sich wieder in die Federn legen sollten. Endlich erscheint der Mann mit der Knipszange; er überzeugt sich, daß der Bahnhof noch steht, stellt einen Hebel um, und so mnß denn die Maschine allmählich in Gang kommen. Auf dem Bahnsteige sangeu etliche Menscheu au sich zu sammeln, farblos und schweigsam, ein paar Streckenarbeiter mit Schaufel und Hacke, ein paar Marktweiber nnt Korben beladen wie Kamele, ein paar kleine Jungen mit fröstelnd znsammengezogncn Knieen, die auch lieber im Bette geblieben wären, als vor Tage nach Mnßenburg in die Schule zu fahren. Nun kommt Elfe Grumpkow mit ihrem dicken Zopfe, ihrer verwegnen roten Mütze, ihrem kurzen Kleidchen uud ihren strammen Beinen nn (wie nnr Grnmpkows ein so großes Mädchen so zum Skandal herumlaufen lassen können!) und schlägt im Vorüberbummelu dem einen der Schüler die Mütze über die Augen, und dem andern haut sie aufs Tornister, daß es knallt; worauf ihr eine Salve von Kraftworten nachgesandt wird, was aber keinen Eindruck auf sie macht. Vielmehr schwingt sie sich auf das eiserne Geländer neben der noch geschloßnen Tür zum Bahnsteig uud beißt fo kräftig in einen Apfel, daß eine der Marktfrauen erschrocken nach ihren drei wackelnden Zähneu greift. Das kleine Gesindel mehrt sich, und dann erscheinen zwei höhere Töchter, die sich bemüheu, Eindruck zu macheu, und die ihre Bücher so nebensächlich tragen, als wären das Dinge, die ihnen nur aus Verseheu in die Hand gekommen seien. Endlich taucht auch eine Sekuudaucr- mütze auf. In Snmma ist es ein ganzer Hänfen von Schülern und Schülerinnen, die nicht gerade freudig in den Tag hineinsehen. Nur Elfe Grumpkow ist bei guter Laune, hat dem Kuipsonkel die Zange weggenommen und dnrchlocht die Karten der Marktfrauen, was diese nur mit offenbarem Mißtrauen geschehn lassen.
Endlich, nach mehrfacher Erinnerung entschließen sich die beiden Arme der Schranke des beuachbarten Bahnübergangs hinter einem dürren Busche unterzutauchen, und der Zug läuft ein.
Sägebock, ei—ne Miuute!
Die kleine Gesellschaft nimmt ein paar Wagenabteile niit Stnrin. Eine schüchterne Frau, die unvorsichtigerweise iu einem der Abteile sitzt, die unsre Rotte als ihr Eigentum ansieht, wird in die Ecke gequetscht uud nnt Geringschätzung behandelt. Die beiden jungen Damen, Suse Heinze, die Tochter des Besitzers einer Fabrik in Sägebock, uud Mimi Nastendorf, die Tochter des dortigen Oberamtmauns, steigen in gemeßnem Zeitmaß ein, beanspruchen aber auch ihren vollen Platz, und so geht es noch enger zu, und die schüchterne Iran wäre gern cinsgestiegen, wenn Zeit dazu gewesen wäre.
Suse nahm sogleich ihr Geschichtsbuch vor und fing an zu leruen.
Du, Suse, sagte Mimi, weißt du was?
Hm?
Paul hat heute seine neue Mütze auf. — Gemeint war der Sekundaner, der übrigens ein Vetter von Suse war und für den Ritter von Mimi galt. Ist mir schnuppe, erwiderte Suse.
Natürlich, sagte Mimi. Was nicht deineu Schorsch angeht, das interessiert dich nicht.
Unsinn! Schorsch ist gar nicht mein Schorsch.
Tn doch nicht so! Als ob ich vorigen Mittwoch nicht gesehen hätte, wie du ihm zu Gefallen über den Wall gegangen bist. — Sag gar nichts — habe ich gesehen. Und Schokolade hast du dir auch von ihm schenken lassen. Und wenn ich von Pauls neuer Mütze rede, dann ist es dir natürlich schnuppe.
Weil ich noch leruen muß. Heinrich der Achte 1509 bis 1547, Eduard der Sechste 1547 bis 1553, Maria — tiefer Seufzer — Maria 1553 bis 1558. Lieber Gott, warum man nur solches altes Zeug lerneu muß! Es ist doch ganz egal, ob Heinrich der Achte 1509 oder 1519 zur Regierung gekommen ist. Und was den Menschen interessiert, davon hört man kein Wort.
Was denn? fragte Mimi.