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Schulreform und kein Ende
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Schulreform und kein Lnde

Wissen, namentlich das Gcdächtuiswissen zu Gunsten freierer Bewegung und Selbstthätigkeit des Schülers zu beschränken, also mannigfache Abstriche am Stoffe vorzunehmen, die Heimatkunde durch Anleitung zu vernünftiger Lektüre bedeutender moderner Prosadichter mehr zu pflegen, die Überspannung des Prüfungswesens und der damit eng verbundnen Dressur zu beseitigen, an der die preußischen Gymuasien im ganzen weit mehr zu kranken scheinen als z. V. die sächsischen, das ist alles zwar nicht neu, aber ganz richtig und be­achtenswert. Andrerseits aber ist es ungerecht zu verlangen, daß das Gym­nasium seine ältern Schüler auch in die moderne Welt- und Kunstanschauung einführe. Die Schule kann in der Kulturentwicklung niemals eine leitende Stellung einnehmen, wie etwa die Universitäten, sie kann ihr nur langsam und vorsichtig folgen, nur Dinge, die sich schon durchgesetzt und bewährt haben, pädagogisch verwerten, sonst versündigt sie sich an der Jugend. Welches ist denndie neue Weltanschauung," etwa die sogenannte naturwissenschaftliche, die sich mehr und mehr als verfehlt herausstellt, weil sie ans zu einseitiger Grundlage bauen will? Und welches ist diemoderne Kunstanschauung," die die Schule an Stelle der klassischen lehren soll, oder ist ihr Sieg schon gewiß? Die Schule soll ihre Zöglinge von ungeklärten Tagesfragen geradezu fern halten, sie soll unr die Urteilsfähigkeit ausbilden; das weitere ist Sache der Universität, überhaupt einer reifern Altersstufe. Daß aber auch das Gym­nasium der Kultureutwickluug nach bestell Krüfteu gefolgt ist, das weiß doch auch wohl Gurlitt; zwischen dein heutigen Gymnasium und dem der fünfziger Jahre ist ein sehr großer Uuterschied.

Jedenfalls steht das thatsächliche Ergebnis der Reformbewegung des letzten Jahrzehnts, soweit sie radikale Veränderungen erstrebt, in gar keinem Verhältnis zu dem großen Lärm, den sie gemacht hat und noch macht. Denn ihr einziges greifbares Resultat ist das sogenannte Neformgymnasium nach dem Muster des Gvethegymnasiums in Frankfurt, das deu Beginn des Lateinischen nach Untertertia, den des Griechischen nach Untersekunda verschiebt, also die eine klassische Sprache auf sechs, die zweite auf vier Jahre, allerdings mit etwas verstärkter Jahresstundenzahl, beschränkt und diesen Unterricht auf einen mit den (Reform-)Nealgymuasien und deu Realschulen gemeinsamen lateinlvsen Unterbau mit sehr starkem Betriebe des Französischen begründet. Auf diesem lateinlosen Unterbau beruht überhaupt der übrigens keineswegs neue Grund- gedcmke der neuen Schule; er soll den Übergang der Schüler auf latein­lose Anstalten der andern Gattungen ohne Schwierigkeit ermöglichen und somit für die Eltern die Entscheidung über die künftige Laufbahn des Sohnes um einige Jahre hinausschieben, die endgiltige Wahl zwischen humanistischem und Realgymnasium um süuf Jahre. Daß das ein gewisser Vorteil ist, versteht sich von selbst; nur sind solche Übergänge doch immerhin Ausnahmen. Sie würden schon erleichtert werden, wenn etwa ein gemeinsamer Unter­bau sVI, V, IV) für die humanistischen und Realgymnasien mit Beginn des Französischen in Quarta statt iu Quinta (des Englischen in Obertertia statt in Untertertia) hergestellt würde. Bis Quarta muß es doch völlig klar sein, ob sich der Knabe für die eine oder die andre der beiden Schulgattungen eignet,