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l^llenoulnin und Christentum
des Christentums bedeuten. Das Unternehmen sei unausführbar, weil die Synoptiker gar nicht das Bild Jesu, souderu die Zustände der llrkirche darstellten. Die angeblichen Worte Jesu seien in Wirklichkeit Antworten der Vorsteher auf Fragen und Zweifel, die ihnen von der Gemeinde vorgetragen wurden. Der lebende Jesus habe die Jünger so wenig zu fesseln vermocht, daß sie bei der ersten ernstlichen Gefahr, die ihm drohte, alle fortliefen, zu ihrem Gewerbe zurückkehrten und ihn halb vergaßen. Erst sein Tod habe ihnen die Augeu geöffnet, sei ihnen zur Auferstehung, zur Erlösung gewvrdeu. Dieses Erwachen zu neuem Leben im Geiste Jesu sei so gewaltig gewesen, daß es ihnen nicht allein Visionen vorgespiegelt, sondern auch die Kraft zum Glauben und zur Grüuduug der Kirche verliehen habe. Diesem höhern Dnsein gegenüber habe das historische Leben des Meisters, und was er etwa in seiner vergänglichen Gestalt aus zufälliger Veranlassung einmal gesagt und gethan habe, keinen Wert mehr gehabt. Sein Tod habe sie ja gerade befreit von den Banden des geschichtlichen Lebens; nicht der irdische Jesus, sondern erst der gekreuzigte und der in ihrem Geiste nuferstaudne habe ihre Seelen befreit. „Aus diesem auferstandnen, gegenwärtigen Geiste bemaßen sie des Lebens Schritte, nicht aber gründeten sie es auf bloße, ärmliche Neminiseeuzen an geschichtliche Vergangenheit. Das Leben lag vor ihnen, nicht hinter ihnen. Nicht der geschichtliche Jesus, sondern der im Geiste auferstandne war das Haupt der Gemeinde; er leitete, tröstete, ermähnte sie und sprach zu ihr durch seine Jünger." Alls dieser Gleichgültigkeit der Jünger gegen den historischen Jesus erklärt es sich, daß wir nicht eiumal von seinem Leiden und Sterben einen zuverlässigen Bericht haben, lind das ist gut so. Der Mohammedanismus ist dadurch der Versteineruug verfallen, daß die geschichtliche Wirksamkeit des arabischen Propheten, und der temporäre Ausdruck seiner Lehren als das ein für allemal Entscheidende festgehalten und so eine vertiefende Erweiterung von innen heraus unmöglich gemacht wurde. Gerade darum sei die christliche Religion die reinste und die lebensfähigste, „weil sie von vornherein die reine Kraft des in ihr wirkenden Geistes von der lähmenden Fessel ihrer ersten ge schichtlichen Ofsenbarungsform zu entbinden berufen war, sodaß dieser Geist immer neue und wieder neue Formen aus sich heraus zu erzeugen vermochte, ohne doch an irgend eine von ihnen dauernd gebunden zn sein." Alle andern Religionsstiftungen hätten höchstens die Kraft zu einem Sprung auf eiue höhere Stufe gehabt, auf der die neue Religion dann verharrt sei. Die christliche Religion allein habe nicht bloß die Kraft zu einem einmaligen Sprunge erzeugt, sondern die Energie zu einer endlosen Entwicklung. Alle Religion sei nichts andres als Mittel und Ausdruck der Erlösung, d. h. der innern Befreiung des Menschen, und das Christentum habe der Menschheit die Erkenntnis erschlossen, daß diese Befreiung auf keiner Stufe der Entwicklung end- giltig gegeben, sondern daß sie ein unendlicher Prozeß sei. Gewiß habe der in den Jüngern wach gerufne Gottcsgeist auch in dein Menschen Jesus gelebt und durch ihn gewirkt, aber doch eben auch nur in der durch die Leiblichkeit und die Zeitumstünde gegebnen Beschränkung. Deswegen sei nicht der irdische, historische Jesus, sondern der gekreuzigte nnd auferstandne der Stifter des Christentums gewordeil. Die göttliche Kraft Jesu sei zwar dieselbe gewesen im