Goethe im Urteil einer Diplomatenfrcm
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liebe Balladen und Dramatisches. Er hatte uns vorher gesagt, daß er lieber Stücke wähle, die eine spannende Situation darstellen als den Ausdruck von Gefühlen oder Stimmungen.
Nun hat meine ungeschickte Hand genug gesagt über diesen Meister in jeder Kunst; nun sollte ich dir noch mitteilen, wie mein Manu über Goethe als Mensch und als Schriftsteller urteilt, aber es fehlt mir die Zeit. Seine Ansicht weicht von der meinen in manchen Punkten ab, denn er hebt seinen Frennd dermaßen in die Wolken, daß das Haupt seines Helden wie von einer Aureole verklärt erscheint. Ich begnüge mich, an ihm zwei Angen zu bewundern, wie ich niemals ähnliche gesehen habe, und die eine ganz ungewöhnliche Intelligenz widerspiegeln.
Unsre Abreise ist auf den 15. bestimmt. Ich kann nicht ohne Bewegung dieses Thal verlassen, wo die Luft, die ich atmete, mir leichter schien, wo die Sorgen nn mir vvrüberstreiften, und wo die Gesellschaft Goethes unserm Aufenthalt einen ganz besondern Reiz gegeben hat. Diese Beziehungen, zufällig angeknüpft, werden von Dauer sein, deun von beiden Seiten hat man das Verlangen, sich wiederzusehen, und man versprach, sich zu schreiben.
An die zufällige Begegnung in Karlsbad hat sich in der That ein dauernder Verkehr geknüpft. Die Korrespondenz hat sofort eingesetzt und ist bis zu Goethes Tod geführt worden, mit Unterbrechungen, aber in einein sich stets gleichbleibenden Wärmegrad. Häufige Besuche in Weimar haben auch den persönlichen Verkehr immer wieder aufgefrischt. Doch Frau Christine selbst hat Goethe nach Karlsbad nicht wieder gesehen. Der erste Besuch, den Reinhard in Weimar machte, war das improvisierte Intermezzo im Fcldzug von 18V9, in den König Jerome seiu diplomatisches Korps mitgenommen hatte; Fran Christine war inzwischen bei ihren Eltern in Hamburg. Die spätern Besuche Reinhards bei Goethe, fünf an der Zahl, fallen in die Zeit, wo er Gesandter am Frankfurter Bundestag war, also nach Christinens Tod. Was für Reinhard die Freundschaft Goethes bedeutete, das hat er gegen diesen und gegen andre oft und in den dankbarsten Worten ausgedrückt. Für ihn war das Erlebnis in Karlsbad fast eine Lebensentscheidnng. Er hatte sich damals infolge von Übeln Diensterfahrungen und nach der russischen Gefangenschaft in einem Zustand körperlicher und moralischer Depression befunden, ans der ihn, wie er selbst sagte, weniger der Karlsbader Sprndel als der ihm gewährte Anschluß an Goethe wieder aufrichtete. An den Kanzler Müller schrieb er drei Jahre nach Goethes Hingang: „So wie er mich erst angezogen, dann au stch hinaufgezogen, dann mit Vorliebe, mit Treue, mit Nachsicht mich geduldet, gehalten, gehoben hat, so ist nur von keinem andern Menschen geschehn." Fast scheint es, daß die kritische Stellung, die Frau Christine Goethen gegenüber annahm, zum Teil darauf zmückzuführen ist, daß sie, während ihr Gatte sich dem neugewonnenen Freund sofort gefangen gab, ihre Selbständigkeit behaupten wollte. Sie war ja überhaupt weniger eine unbefangen aufnehmende, als eine kritische, reflektierende Natur. Auch Ware» die Gegenstände, über die sich beide Männer vorzugsweise unterhielte», von der Art, daß sie nur schwer folgen und kaum mitsprechen konnte, nnd das war sie von ihrem mütterlichen Thee- tlsch. wo die Frauen das große Wort führten, nicht gewohnt. Übrigens ist