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Goethe im Urteil einer Diplomatenfrau
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alles Entgegenkommens seinerseits sind unsre Beziehungen, wenigstens was mich betrifft, niemals eigentlich herzliche gewesen. Es ist bei ihm zu viel Gemachtes, ein Mangel an Natürlichkeit, was nicht znr Vertraulichkeit einlädt, im Gegenteil jede Hingebung ausschließt. Es wäre anmaßend von mir, ihn beurteilen zu wollen und zu behaupten, ich hätte dieses einzige Wesen begriffen. Immerhin will ich versuchen, den Eindruck zu schildern, den dieser glänzende Geist ans mich gemacht hat; es vollkommen zu thun, müßte ich seine eigne Beobachtungsgabe und seine Kühnheit haben. Professor Hnber sagt mit Recht, Goethe weiche allem Jndivi- duelleu aus, er hat deswegen nie mein Herz gerührt, er schwebt über den Leiden der Menschheit, gleich dem Bewohner eines andern Planeten. Nie spricht er von sich selbst, und nie habe ich ihn an den Freuden oder Bekümmernissen andrer teil­nehmen sehen. Selten erhält man von ihm ein Zeichen des Beifalls oder des Tadels. Erzählt man ihm von den Sorgen, Täuschungen ihm bekannter Personen, so nimmt er diese Berichte wie Alltngsgeschichten und erzählt ähnliche Fälle. Nichts regt ihn auf. Er lebt im Kreis seiner Ideen uud seines Wissens, einem ungeheuern Kreis, der alle Wissenschaften umspannt, und spielt mit den tiefsten Materien. Eifrig beschäftigt er sich mit Botanik, Chemie, Mineralogie, Astronomie; alles ist ihm ver­trank. Gegenwärtig ist die Farbenlehre sein Steckenpferd; sie nimmt, wie er meinem Mann bewies, ihren Ausgangspunkt von der Chemie und mündet in die Philosophie. Anbetung ist er gewöhnt, und keine Huldigung setzt ihn in Erstaunen. Im Lauf ciuer Unterredung, in der Goethe sich mit ungewöhnlichem Feuer uud Schwung ausdrückte, sagte ihm Karl, wiewohl er schou öfters mit bedeutenden Männern in engen Beziehungen gewesen sei, habe er noch bei niemand eine solche Fülle von Gedanken und eine solche Harmonie und Feinheit der Empfindungen, kurz eine solche Vollkommenheit angetroffen wie bei ihm. Er gestand ihm, er habe Mühe, ihm zu folgen, er müsse sich immer wiederholen, was er von ihm gehört habe, nnd er sei oft ganz verblüfft von der Richtigkeit und der Kühnheit seiner Ideen. Dieses Lob schien den Dichter gar nicht zu überraschen, er cmtwortete nur, man müsse in der That seine Sprache gewohnt sein, um ihn zu verstehn. Er habe deshalb auch auf die Konversation verzichtet uud lasse sich überhaupt nur auf eiu Gespräch ein, wenn er Männer seines gleichen finde, wie meinen Mann, oder wie Schiller war. Er sprach dann mit großer Wärme von diesem, ohne jede Spur von Eifersucht und weit entfernt, irgend einen Vergleich zn ziehen.

Du weißt, liebe Mutter, daß Goethe sich gleich andern bedentenden Männern bei den Fraueu mit einem ziemlich niedrigen geistigen Niveau begnügt, nnd daß ihm eiu gewöhnliches natürliches Wesen lieber ist als eine hochentwickelte Intelligenz. In seinen Verhältnissen läßt er sich vom Augenblick bestimmen, nnd es fehlt ihm nicht an Gründen zur Rechtfertigung seiner Launen und ihrer Folgen. Aber die Heldinnen iu seinen Werken, ausgestattet mit so erhabnen Gefühlen, rühren nicht nnd gefallen nicht, weil der Dichter sie nur mit solchen Tilgenden ausgerüstet und sie mit solcher Liebe geschaffen hat, um zu zeigen, daß er es besser gemacht habe als der Schöpfer/")

Ihn seine Dichtungen lesen zu hören, ist ein wahrer Genuß. Seine Stimme ist wohlklingend, stark und jeder Modulation fähig. Das Feuer seines Auges, sein Vortrag, seine Gebärde sind angemessen und eindrucksvoll. Er deklamiert mit Vor-

Man vergleiche damit, was Goethe selber (zu Eckermann, 22. Oktober 1828) über seine Frauencharaktere gesagt hat:Meine Idee von den Frauen ist nicht von den Erscheinungen der Wirklichkeit abstrahiert, sondern sie ist mir angeboren oder in mir entstanden, Gott weiß wie! Meine dargestellten Frauencharaktere sind daher auch alle gut weggekommen; sie sind alle besser, als sie in der Wirklichkeit anzutreffen sind."