Beitrag 
Goethe im Urteil einer Diplomatenfrau
Seite
411
Einzelbild herunterladen
 

Goethe !m Urteil einer Diploinatenfran

411

wv er eine» bejahrte», ziemlich beleibten Mcmn in einem Knmisol sah, der alsbald im Nebenzimmer verschwand und einen Augenblick später im Überrock wieder er­schien. Mau setzte sich cmfs Kmmpee, und er hielt darauf, sich rechts zu setzen. Seine Manieren haben nichts Französisches, nichts Gefälliges, sie sind hastig und abgerissen. Sein Ausdruck ist ernst, aber wenn er lacht, fnnkelu seiue Augen, nnd der Schalk erscheint in alleu Falten seines Gesichts. Er war sehr zuvorkommend, sprach von Jassh, unsrer Jnternierung usw. Wie es häufig bei berühmten Männern geht, hatte ich mir ein ganz falsches Bild von ihm gemacht. Er gleicht mehr Antonio als T.isso. Seine ganze Haltung ist die eines Staatsrats, sein Angc allein verrät den Dichter.

11. Juni

Liebe Mutter, ich wollte dir gestern nach einem laugen Spazicrgang schreiben, als Goethe zum Thee kam. Er hielt uns einen förmlichen Vortrag über seiue neue Farbenlehre. Die Art, wie er diese betrachtet nnd auseinandersetzt, ist höchst interessant. Allein sobald man nicht mehr unter dem Zauber seiues Genius ist, sagt man sich, daß viele seiner Aufstelluugeu vou den Sachverständigen ins Gebiet der Chimären verwiesen werden werden. Karl vermag besser als ich diesem glän­zenden Geist zu folgen. Die geistige Welt, in der er sich bewegt, umfaßt alles: Philosophie, Botanik, Astronomie, keine Wissenschaft ist ihm fremd. Wenn ich ihm cmc Zeit laug gefolgt biu, alle Gebiete streifend »nd stets in unzugänglichen Höhen verweilend, verweigert mein Verstand jeden Dienst, und das Gefühl meiner Un­zulänglichkeit erdrückt mich. Ich glaube, das ist die Wirkung, die er wünscht, und die ihm nin meisten schmeichelt. An einem und demselben Tag ist er viermal ge­kommen: nm Morgen, nm mir bei einer Kopie seiner Höheukarte") behilflich zu sein, dann, um mir das Tagebuch unsrer Jnternierung zurückzugeben, das er zu lesen gewünscht hatte, dann, um uns Farbengläser für seine Theorie zu bringen, endlich am Abend, um sich zu entschuldigen, daß er nicht zum Esseu zu uns kommen könne. Seit acht Tagen ist der Herzog von Weimar hier, und wir sehen ihn häufig. Er ist unbedeutend. Seine Anhänglichkeit an Goethe datiert von der Zeit, da beide uvch jung ihre Verguüguugen teilten. Ihre freundschaftlichen Beziehungen haben sich trotz des Staudesnuterschieds erhalten, und das spricht für sie. Der Herzog ist sehr natürlich, ohne allen Stolz. Während einer Landpartie, die er mit Goethe machte, verschaffte er sich eine Angelleine und fing kleine Fische in der Tepel. Der Dichter brachte uns sein Stammbuch mit der Bitte, uns einzuschreiben: ich erschrak, denn er hat seiue Theorie über die Handschriften, die nach seiner Meinung über den Charakter der Personen Aufschluß geben. Aus der Napoleons machte er ein wahres Studium, nnd er ist zn einem recht guten Urteil gelaugt. Wir zogen uns aus der Sache, so gut wir konnten, indem wir das universelle Genie des großen Mannes priesen, für den es keine Geheimnisse der Natur nnd des menschlichen Herzens mehr gebe, eine Schmeichelei, die ihm zu gefallen schien.

Der nächste Brief beschreibt einen Ausflug nach den Hans Heiling-Felsen; Riemer war auch mit von der Partie und setzte sich mit seinem Skizzenbuch vor die Hauptansicht. Dann vom 24. Juni:

Karlsbald soll iu diesem Jahr weniger belebt und glanzvoll sein als sonst; jedermann empfindet die Schwere und den Wechsel der Zeiten. Wir kommen eben aus einem Konzert, das in leerem Saale stattfand. Die Russen und die russische

. ") Nach Alexander von Humboldts Ideen zu einer Geographie der Pflanzen ausgeführt, >- Tag- und Jahreshefte, 688 bis 639.