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Goethe im Urteil einer Diplomateufra»
Aufsatz entwickelt ist. Daß Theorie und Praxis nicht immer übereinstimmen, ist bekannt, und aus den übrigen Abhandlungen der kleinen Schrift, die ja auch sonst viel anregende und richtige Gedanken enthält, scheint mir hervor- zugehn, daß die Praxis sich doch wesentlich anders gestaltet, als man nach der an die Spitze gestellten Theorie erwarten könnte, h, Uahnis
Goethe im Urteil einer Diplomatenfrau
m 12, Oktober 1796 wurde auf dem Sievekiugscheu Gut Neu- muhlen bei Altoua die Hochzeit des französischen Gesandte» Karl Reinhard mit Christine, der Tochter des Arztes und Schrift stcllers Albrecht Heinrich Reimarus, gefeiert, Reinhard, der ehemalige Tübinger Stiftler, jetzt im Dienste seines Advptiv- Vaterlandes zum erstenmal auf einen selbständigen Posten gestellt, war bald nach seiner Ankunft in Hamburg iu der Familie Reimarus-Sieveking heimisch geworden. Er hatte hier Nahrung für seine litterarischen Neigungen wie eine übereinstimmende politische Denkart gefunden: man opferte demselben weltbürgerlichen Idealismus, der ihn selbst iu den Dienst der französischen Revolution geführt hatte. Die Mutter Reimarus, die schöngeistige und viel- geschäftigc „Doktorin," war ihm besonders gewogen, und bald gewann er mich das Herz der zweiundzwanzigjährigen Christine, die zuvor mit dein durch seinen kühnen Rettungsversuch für Lafayette bekannten Arzt Erich Bollmann halb verlobt gewesen war, eine Verbindung, die der Eltern Billigung nicht erhalten hatte, Christine, iu der geistig bewegten Atmosphäre des Rcimarusschen Hanses aufgewachsen, wo alles willkommen war anßer den „verworfnen Aristokraten," hatte eine vorzügliche Bildung erhalten; ihr Geist wurde gerühmt, ihre Be- leseuhcit und namentlich ihr ausgezeichnetes Gedächtnis, In Sachen der Religion hielt sie es mit dem deistischen Aufklärnngschristentnm, aus dem das berühmte Werk ihres Großvaters hervorgegangen war, Viele Zeitgenossen priesen sie als eine Frau von großer Anziehungskraft, teilnehmend, freundlich, unterhaltend, während andre und zwar dem Hause nahestehende Freuude es der Mutter zum Vorwurf machten, daß sie durch ihre absichtvolle Erziehung die durch keine äußern Gaben ausgezeichnete Tochter unnatürlich hinaufgeschraubt habe, sodaß diese frühzeitig die Frische der Jugend verlvr nnd ein ver- küusteltes altkluges Wesen annahm. Wie dem sei, als Gattin nnd Mntter hat sie sich in einem schweren sturmbewegten Leben musterhaft bewährt, Sie ist ihrem Manu eine starke und aufopferungsvolle Gefährtin gewesen, dnrch ein strenges Pflichtbewußtsein aufrecht gehalten auch in den härtesten Proben. Die „Doktorin" hatte gehofft, den Schwiegersohn in den, Familienkreis be^