Einige Lebensbeschreibungen
as kümmert mich der Mann, wenn ich mir seinen Gedankenschatz habe, sagen die einen. Die andern dagegen: Was kümmern mich Dramen und philosophische Systeme! Wie die Menschen, mögen sie große oder kleine Geister sein, aussehen, leben, essen, trinken und lieben, das allein will ich wissen, denn das einzige wahrhaft Interessante bleibt für den Menschen doch der Mensch. Die zweiten mögen wohl in. der Mehrheit seiu, denn die Zahl der biographischen Bücher ist heute Legiou, und die Verleger veranstalten ganze Sammlungen von Lebensbildern. Jedenfalls erscheint es einem ungereimt, wenn man von einem Manue, der eine tiefgehende Wirkung auf unser Volk ausgeübt hat, und von dem wir Ältern Zeitgenossen sind, so gut wie gar nichts weiß. So stand es bis vor kurzen: um Lotze, von dem Nur nichts wnßten, als was im Konversationslexikon steht. Daß in drei Zeitschriften einige Briefe von ihm veröffentlicht worden sind, haben wir erst aus dem vorliegenden 12. Bande von Frommanns Klassikern der Philosophie erfahrein Hermann Lotze von Richard Falcken- berg. Erster Teil: Das Leben uud die Entstehung der Schriften nach den Briefen (Stuttgart, E. Hauff, 1901). Von den Briefen sind die meisten an seinen Verleger Salomou Hirzcl iu Leipzig gerichtet, mit dem ihn eine aufrichtige Freundschaft verband, die sich nach Snlomvns Tode auf seinen Sohn Heinrich vererbte. Von Lotzes äußern Schicksalen ist nnn freilich nicht viel und nichts aufregendes zu berichten. Er wurde 1817 in Bautzen als Sohn eines Militärarztes geboren, besuchte das Gymnasium zu Zittau, wo er ein sehr tüchtiger Lateiner wurde, studierte in Leipzig Medizin, praktizierte ein Jahr in Zittau, habilitierte sich 1839 in Leipzig als Privcitdozent, wurde 1844- nach Göttingen berufen, heiratete die 1819 gcborne Tochter Ferdinande des Pastors Hoffmann iu Reibuitz bei Zittau, waudte sich immer mehr der reinen Philosophie zu, wurde berühmt, kam mehreremal in die Lage, Rufe nach auswärts, nach Leipzig, Berlin, Bonn abzulehnen, folgte aber endlich, nach dem Tode seiner Gattin, im Herbst 1880 dem wiederholten Rnf nach Berlin, nicht mit leichtem Herzen, und nnr weil er fühlte, daß er, vereinsamt, in Lethargie versinke und einer Aufrüttlung bedürfe. Um eine Wohnung zu mieten, kam er zum erstenmal in seinein Leben nach Berlin. Im April 1881 siedelte er dahin über, aber schon am 1. Juli entriß ihn eine Lungenentzündung dem neuen größern Wirkungskreise. Seine Persönlichkeit entspricht dein Bilde, das man sich nach der liebenswürdigen Philosophie des Mikrokosmus von ihm macht. Leute, die den anfangenden gekannt hatten, haben sich später gewundert, daß aus dem unscheinbaren, kleinen, dünnen, stillen Manne später etwas Bedeutendes geworden sei. Als Privatdozent in Leipzig besuchte er den damals gerade tranken uud eutsetzlich leidenden Fechner fast täglich. Lautlos pflegte er einzutreten, sich auf einen Stuhl neben der Thür zu setzen, selten den Mund zu öffnen und manchmal fortzugehn, ohne, außer Gruß und Abschied, ein Wort gesprochen zu haben. Das war nicht allein liebenswürdig, sondern das einzig