Alte und neue Weltpolitik
Festrede zum Geburtstage des Kaisers von Gtto Raemmel
m 18, Januar waren dreißig Jahre verstrichen, seitdem im Spiegelsaale des stvlzen Königsschlosses von Versailles, vor den Thoren des belagerten Paris, König Wilhelm von Preußen znm deutschen Kaiser ausgerufen, und damit das Deutsche Reich in modernen bundesstaatlichen Formen erneuert wurde, und zweihundert Jahre waren seit demselben Tage vergangen, da sich an der Grenze deutscher Erde, in Königsberg Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg die Königskrone auf das Haupt setzte, in stolzer Unabhängigkeit von jeder geistlichen und weltlichen Gewalt, Weit hinter uns liegen heute die Tage des Kampfes um die Grundlagen unsrer Gesamtverfassung, und was uns Ältern vor dreißig oder vierzig Jahren der Gegenstand erst heißer, zorniger Sehnsucht, dann höchster Freude war, das Deutsche Reich, das ist für das jüngere Geschlecht längst etwas Gewöhntes und Selbstverständliches geworden, und kaum denkt es noch daran, wieviel Arbeit und Mühe haben daran gesetzt werdeil, wieviel Blnt und Thränen haben fließen muffen, ehe die Kniserkrone geschmiedet war. Heute trägt sie schon das Haupt des dritten Kaisers, und seinen Geburtstag begehu wir heute zum zwölften mal. Und was ist unsre Gabe an diesem Tage? Was wir nicht nur heute sondern alle Tage dem Kaiser schenken sollen, und was er von seinein Volle fordern darf, das ist Vertrauen zn ihm und Verständnis seiner Art,
Wir dürfen es uns nicht verhehlen, daß beides, das Beste und Höchste, was ein Volk seinem Herrscher schenken kann, ihm heute noch nicht im vollen Maße zu teil geworden ist, ja daß es ihm auf mancher Seite geradezu verweigert wird. Eine oft genug kleinliche, sich an Nebendinge heftende, jeder Bescheidenheit entbehrende, auf mangelhafter Sachkenntnis beruhende und doch hochmütig absprechende Kritik macht sich in einem Teile unsrer Tagespresse breit und verwirrt die vielen Tausende von Lesern, die nicht imstande sind, Grenzbotc» t IS01 38