Abendland und Morgenland
unreifer oder abgelebter Völker dauernd verwirklichen läßt, und als Halborientalen stehn die Russen diesen Völkern innerlich viel näher als die Abendländer, Darauf beruht das Geheimnis nicht gerade ihrer Siege, wvhl aber ihrer Herrschaft, wie das jüngst Paul Rohrbach (In Turan und Armenien auf den Pfaden russischer Weltpvlitik, Berlin, 1898) nach eigner Beobachtung vortrefflich ausgeführt hat. Die Russen verlangen von den Orientalen gnr nicht die Unterwerfung unter ein herrschendes Bvlkstum, wie die Eugläuder in Indien, sondern nur unter das Gebot des „weißen" <d, h, guteu) Zaren, des Ak Padischah, dem sie sich selbst gerade so fügen, lind sie nehmen aufs bereitwilligste Leute aller Stämme in ihren Staats- und Heeresdienst ans, wenn sie mir russisch lernen, ganz wie die alteil Byzantiner, So gering ihre Assimilationskraft gegenüber der höhern Kultur des Westens ist, so unwiderstehlich wirkt sie im asiatischen Osten,
Früher gaben die gebildeten Russen viel darauf, es den Abendländern gleichzuthun, und sie waren stolz, daß Petersburg eine ganz europäische Stadt sei, obwohl es dies im Grunde gar nicht ist, sondern viel mehr orientalischen Einfluß verrät, als etwa das dem Orient doch viel näher liegende Wien, Damit ist es längst zu Ende. Die leitenden Kreise Rußlands sind heute streng national gesinnt. In der That ist Rußland eine Welt für sich; das tritt jedem Fremden entgegen, sobald er von Westen her über die Grenze kommt, und in diesem Gefühl erscheint wieder den Russen das „Ausland" als ein gewissermaßen einheitlicher Begriff, bei dem die Besonderheit der einzelnen Staatsgebiete verschwindet. Die Folgerungen für die politische Stellung des Reichs hat daraus jüngst in einer Broschüre „Zu den Ereignissen in China" Fürst Uchtomskij gezogen, der vertraute Begleiter des Zareu auf feiner Weltreise und wohl auch der Vertraute seiner Politik, der Leiter der (russischen) Petersburger Zeitung (Peterburgskija Wjedomvsti) und der Direktor der russisch- chinesischen Bank. Nach seiner Auffassuug ist Rußland eine Art von Mittelding zwischen Europa und Asien, zwischen dem Abend- und dem Morgenlnnde; es steht zu jenem in einem innern Gegensatz, zu diesem in inilerer Verwandtschaft. Daher genießt es das Vertrauen der Asiaten, und seine Ausbreituug in Asien trägt nicht den Charakter einer Eroberung, sondern vollzieht sich kraft dieser innern Verwandtschaft, in der Asien und Rußland kraft ihrer theokratisch- absolutistischen Ordnung „ein harmonisches Ganze" bildeil. So ist Rußland die natürliche Vor- nnd Schutzmcicht Asiens und als solche zur Weltherrschaft berufen; die abendländischen Völker, diese „hinterlistigen räuberischen Staaten," sind dagegen die natürlichen Feinde des Orients, den sie so wenig versteh», wie er sie versteht. Daß die russische Politik unter Nikolaus II. vvu diesen Ideen beherrscht wird, ist gar nicht zweifelhaft. Das sozusagen friedliche Vordringen Rußlands in China sollte offenbar das Reich der Mitte geräuschlos in eine gewisse Abhängigkeit von Nußland bringen und wurde darum von dem Boxeraufstande in höchst unerwünschter Weise unterbrochen, denn dieser zwang die abendländischen Mächte zum bewaffneten Einschreiten. Nichts konnte Rußland unwillkommner sein. Es schloß sich den Westmächten bei ihrem Vorgehn