Deutsche Rinderlieder und Kinderspiele
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und zählt ohne den Anspruch, den Reichtum auch uur einigermaßen zu erschöpfen, gegen 1400 kürzere und längere Stücke, die aus allen Gegenden des deutschen Vaterlands zusammengetragen sind, leider ohne jede Angabe darüber, aus welchen Landschaften die einzelnen herrühren. Denn dies wäre für jeden in hohem Maße lehrreich, der sich von dem, was er da findet, etwa verlockt fühlt, zu vergleichen und zu fragen; und zu fragen giebt es da genug. Der Freund des volkstümlichen Lebens und Geistes muß daher die Meuge der übrigen Sammlnugen zu Hilfe rufen, die auf engere Kreise beschränkt sind, aber innerhalb dieser nach Vollständigkeit und zugleich uach genauer Wiedergabe der Überlieferung streben. Und da sind denn mm alle deutschen Landschaften vertreten, von den Alpen bis zur Meeresküste, vom Wasgeuwalde bis an den Memelstrcind fehlt keine.
Aber sind sie alle, eine wie die andre, reich daran? Die meisten der fleißigen Sammler behaupten es für ihre Heimat. Aber freilich die Früchte ihres Sammeleifers sind von recht verschieduem Umfange, und ganz nenerdiugs habe ich einer bestimmten Landschaft, dem Meißner Lande, eine verhältnismäßig große Armut an Kinderliebem von einem gelehrten und kundigen Manne ausdrücklich zusprechen hören. Und diese für das Meißner Land gewissermaßen beschämende Behauptung ist nicht leicht hiugesprochen worden, sondern ans eine fleißige mehrjährige Sammelarbeit gestützt, deren Ergebnis in einer Festschrift für den verstorbnen liebenswürdigen Gelehrten und Fortscher des Grimmschen Geistes, Rndolf Hildebrand, niedergelegt ist. ^) In der That ist dieses Ergebnis sehr dürftig, und wenn es auch nur einigermaßen den Umfang der Kinderdichtung des Elbestrandes im Sachsenland darstellen sollte, so müßte dieses Land hinter allen andern Himmelsstrichen, die die deutsche Sonne bescheint, an dichterischer Neigung weit zurückgeblieben sein. Aber das wäre wirklich sehr wunderbar, und ich kann es so wenig glauben, wie ich andrerseits keine, auch nicht die sorgsamste Sammlung irgend einer Landschaft für vollständig ansehen möchte. Denn dieses Sammeln ist eine Glückssache. Es muß unsäglich mühsam sein und sehr unvollständige Erfolge bringen, wenn man diese Liedchen alle einzeln ans dem Kindermunde sozusagen auffangen will. Freilich in Berlin, denn auch da ist Kinderlieb nnd -spiel noch nicht ausgestorben, vermutlich auch in andern Großstädten nicht, da läßt sich ein spielender Kreis durch einen herantretenden Znhörer wenig stören; und es wird mit gepreßter gellender Stimme, die den Straßenlärm zu durchdringen gewohnt ist, vergnügt weiter gesungen. Aber tritt man in einer kleineu Stadt oder auf dem Lande lauschend an das Kindervolk, sofort verstummt Wort und Weise, nnd auf Kommando giebt nur selten eins etwas heraus. Mehr könnte wohl erforschen, wer selbst Kinder hat. Aber wer aus dem gebildeten Stande läßt sie heutzutage noch frei unter den Gassenjungen hernmlanfen. Auch in der kleinen Stadt hat man ja leider Gottes angefangen, sie in Watte zu wickeln, weil man sie vor dem Ostwind und der Roheit niederer Stünde bewahren zu müssen meint. Vielen aber hat ehedem diese so wenig wie jener dauerhaften Schaden eingebracht; und solche Leute muß man finden, die im täglichen freien Umgange auch mit den Geringen in der Schule, auf der Straße, im Feld, im Wald Kinder gewesen find, um mit leichter Mühe ganze Schätze jener Kinderlieder zu gewinnen, wenn sie in treuem Gedächtnisse aufbewahrt werden.
Wer uun auf seiuen Sammelfahrten dieses Glück hat, der kann verhältnismäßig leicht und schnell reichen Gewinn einheimsen, wie ja auch die Brüder Grimm
>) Knrl Franko, Über die Volksdichtung im Meißnischen. S. '^7 bis 35 der Festschrift zum siebzigsten Geburtstage N. H.s herausgegeben von Otto Luon. Leipzig, Teubner, ,1894,