Maßgebliches und Unmaßgebliches
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Die blamierte Obstruktion. Wir gehöre» uicht zu den Ausgleichsgelehrten, vermögen daher auch nicht zu berechnen, um wieviel Millionen der ritterliche Magyar den gemütlichen Österreicher bei dem provisorischen Ausgleich, der so gut wie fertig ist, halb bemogelt und halb vergewaltigt hat, aber dazu gehört keinerlei Gelehrsamkeit, einzusehen, daß die Opposition den Holzweg gegangen ist. Sie glaubte, die Regierung durch Obstruktion zur Nachgiebigkeit zwingen zu können, weil ohne Parlament der Ausgleich nicht gemacht werden könne, und mm ist Graf Thun doch ohne Parlament mit den Ungarn fertig geworden. Der viel verspottete Thun und seiue Kollegen mögen ganz so unfähig sein, wie sie von der Opposition geschildert werden, für die eben vollbrachte Staatsaktion brauchten sie weiter nichts zu wissen, als daß die Negierung starker ist als die parlamentarischen Klubs, und das haben sie gewußt. Gcmz verzweifelt gebärden sich die Sozialdemokraten, die unaufhörlich schreien, mit Österreich sei es vorbei. Das mag ja iu einem gewissen Sinne wahr sein; vielleicht sogar in doppeltem Sinne; denn nicht allein bedeutet die völlige Autonomie Ungarns, zu der ein weiterer starker Schritt gethan worden ist, die Auflösung der Großmacht Österreich in zwei Mittelstaateu, sonder» es ist damit auch die Erfüllung der tschechischen Wünsche, d. h. die völlige Auflösung der Monarchie iu kleiue Länder, einen Schritt näher gerückt. Aber natürlich ist es der Sozialdemokratie nicht um Österreich zu thun, sonder» um sich selbst, uud da hat sie nun wirklich Gruud zu jammern, denn mit den: Parlament ist sie eben selbst kalt gestellt. Ist doch der Reichstag die einzige Stelle, wo die Arbeiterführer zu ganz Österreich, zur Welt reden und durch Reden nicht allein den gepreßten Herzen der Arbeiterschaft Luft macheu, sondern doch auch manches erreichen können. Den übrigen Parteien war die sehr energische Thätigkeit der kleiueu sozialdemo- kratischeu Fraktion so unbequem, daß man auf den Gedanken kommen könnte, die Deutschliberalen, d. h. der Hauptsache nach die Vertreter der Großindustriellen, hätten absichtlich geholfen, den Reichstag totzuschlagen, um den Arbeitern ihr Sprachrohr zu zerbrechen. Sie könnten dabei kalkuliert haben, daß ihnen ein paar Jahre Absolutismus nicht viel schaden würden, da ihueu der Parlamentarismus auch nichts genützt habe. Sie erfüllen die Welt mit Klagen über den Niedergang von Industrie und Handel in Österreich, und da die Gesetze, Einrichtungen und Verwaltnngsmaßregeln, deneu sie die Schuld geben, nicht von gestern sind, so mnß man daraus schließen, daß auch das Parlament, so lange es iu Thätigkeit war, zur Abstellung ihrer Beschwerde» nichts geleistet hat. Indes es giebt ohue Zweifel auch noch aufrichtige Liberale, die deu Zustand unerträglich finden, daß einige große Herren, die teils von ihren Beichtvätern, teils vou ihren Bankiers beraten werden, über die Geschicke eines großen, zivilisierten Volks in ihrem geheimen Kabinett entscheiden. Diese »»d die deutschen Patrioten, die mit der Obstruktion rein nichts erreicht haben — beide Gruppen fallen ja wohl teilweise zusammen —, mögen jetzt ihr Gewissen erforschen und in der lcmgeu Ruhepause, die ihnen beschieden ist, über einen zweckmäßigern Feldzugsplan beraten. Selbstverständlich ist das Parlament nicht für immer beseitigt. Kein Staatsmann unsrer Zeit findet es sonder- lich angenehm, die Verantwortung für alle Regieruugsmaßregeln allem auf sich zu nehmen, und es giebt mauche Dinge, z. B. Handelsverträge, die eine heutige Regierung ohne Parlameut überhaupt nicht machen kann. Der Reichstag wird also über kurz oder lang wieder einberufen werden, uud bis dahin werden sich die Herren der Opposition hoffentlich darüber klar werden, daß Pultdeckelgeklapper und obstruierende Dauerreden nicht das geeignete Mittel sind, einer Minderheit das Staatsruder in die Hände zu spielen.