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Andreas Oppermann : Erinnerungsblätter :
(Schluß)
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720 Der goldne Lngel

mut und dem Kraftgefichl ein Mciß setzte. Bis zuletzt flößte ihm die Verherrlichung des gebrochnen Menschen in der litterarischen Decadence einen entschiednen Wider­willen ein, er forderte, wo nicht Krankheit den Willen bengte und zerrieb, vom Einzelnen die seinen Verhältnissen entsprechende Wiedercinfrichtuug und höchste Widerstandskraft. In eine Zeit, die keine Individuen mehr kennt, sondern nur Typen und Massen, hätte er nicht hineingepaßt; aber er mochte auch niemals glmibeu, daß solche Zeiten kamen, und meinte lachend, daß ein einziger genialer Satiriker hinreichen würde, ihren ganzen Druck abzuschütteln.

Es ist möglich und würde unr zu billigen sein, daß aus seinem Nachlaß eine Anzahl vortrefflicher zerstreuter Aufsätze und Reden gesammelt und veröffentlicht wird. Viel willkommner lind wertvoller wäre es dennoch, wenn einige derer, die ihn gekannt haben, ihre Eindrücke und Erinnerungen an die lichte, lebensvolle Gestalt festhalten wollten, wie es hier versucht ist. Denn ich sage noch einmal, ich denke nicht gering von seinen litterarischen Arbeiten und freue mich, daß sich das BuchErnst Nietschel" fort und fort behauptet. Aber daß der Mensch über dem Rechtsgelehrteu, dem Anwalt, dem Schriftsteller und Kunstkritiker stand, ist nicht mir meine, sondern die Überzeugung eines jeden, der das Glück gehabt, ihn zu kennen, zu lieben und ein unvergeßliches, wertvolles Stück Leben mit ihm zu teilen.

Der goldne Engel

Erzählung von Luise Glaß (Schluß)

ie Adresse kam; nach zwei Tagen voll Zogerns und Überlegens, ob hier eine Pflicht zu thuu sei, oder nur ihre alte Überschätzung sich in Dinge mischen wolle, an die sie nur ein sehr bescheidnes Recht habe, schrieb Line dem Sammler und wartete mit heißem Herz­klopfen acht, vierzehn Tage vergeblich auf Antwort.

Dann stand der Mann plötzlich in ihrer Stube, mitten nnter den Lehrmädchen, die sich mit Tuscheln und Kichern noch tagelang über den Stutzbart, das weiße Haar und das rosig frische Gesicht des Fremden verwunderten, der mit übersprudelnder Rede zwischen Plättbrett und Rohrpuppe vordrang und dann Fräulein Line entzückenderweise beinah drei Stunden lang ihrer Aufsichtspflicht entzog.

Sie haben mir geschrieben? Fräulein Städel, nicht wahr? Schön! Sie selber? Schön! Ich danke. Ein Brief ist immerhin etwas, aber eigentlich gar nichts. Sehen, sehen ist Hauptsache, Alles, Einziges. Zeigen Sie mir! Modell? Vielerlei? Hm. Ich habe noch nichts derart, aber man mnß alles sehen, was man sehen kann. Je vollständiger ich zusammenbringe, wie oft sich die Menschen in allen Stücken irren mußten, ehe sie das Rechte fanden, desto lehrreicher für die Mutlosen und die Spötter. Schließlich vermache ich meiner Vaterstadt die Sammlung, nnd die Vergnügnngsreisenden werden sie anglotzen und sich wuudern