Einige Bedenken über die Politik der konservativen Partei
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regier Zeit jeder gegen die jeweilige Negierungspolitik gerichtete Kampf unterdrückt werden konnte.
Es schien, als ginge der reaktionäre Geist der Karlsbader Beschlüsse um. War da noch im Ernst die Rede von jenem praktischen Christentum, das Fürst Bismarck auf seine Fahne geschrieben hatte? Nicht mehr die Liebe zu den (irregeleiteten) „Brüdern," der Kampf aufs Messer gegen die Sozialdemokratie stand im Vordergrund. Als Sozialdemokrat von bösestem Willen, als bewußter Vertreter des Umsturzes galt auch der Harmlose, der einen sozialdemokratischen Stimmzettel in die Wahlurne gelegt hatte, bloß im Vertrauen auf die so erwünschte, vom Agitator versprochne Besserung feiner Lage, und der im Grunde nichts weniger als Umsturz will und sich die „ungemauserte" Sozialdemokratie gar nicht vorstellen kann. Wer „praktisches Christentum" zu bethätigen behauptet, der soll vor allen Dingen selbst christliche Selbstverleugnung üben, der muß selbst Opfer bringen können, zum Vorteil der Schwachen auf eigne Vorteile verzichten, der muß das Wohlwollen üben, das die „Sozialdemokraten," d. h. die Mehrzahl der Arbeiter und kleinen Leute in erster Reihe entbehren und auch fordern. Deshalb ist denn doch aber auch der Gedanke nicht von der Hand zu weisen, daß eine Organisation der Arbeiter, kraft deren diese erst dem Arbeitgeber gegenüber zu gleichwertigen und einigermaßen gleichmächtigen Kontrahenten werden würden, zum Frieden oder wenigstens zum Ausgleich schroffer Gegensätze führen kann. Auch den Arbeitern darf man ein Verständnis für das zutrauen, was zur Erhaltung des Arbeitsbetriebs, zu seiner Konkurrenzfähigkeit usw. nötig ist, kurz, ein Verständnis für die Grenzen der für sie erreichbaren und gerechten Lohnbedingungen.
Auch hier gilt das Wort: „Nicht der Vernünftige regiert, sondern die Vernunft." Im Gegensatz hierzu aber gilt bei den Konservativen eher jeder, der für Arbeiterfachvereine und dergleichen eintritt, für einen halben Sozialdemokraten. Es fehlt eben weithin das Wohlwollen, das in jedem, auch dem geriugsteu Arbeiter einen grundsätzlich gleichberechtigten „Bruder" sieht, wie es dem christlichen Ideal entspricht. Derselbe Sinn, der die Söhne gewisser Kreise für vorzugsweise berufen ansieht, die Staatsümter zu bekleiden, der gewisse Kreise unter das Motto stellt: 1'6tg.t o'sst moi, der vermag in der Arbeiterbevölkerung nur Menschen zweiter Klasse zu sehen, die zum Dienen berufen sind.
„Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben." der Spruch hat noch heute seine Geltung. Aber das entscheidende ist nicht eine formale Gerechtigkeit, wie sie die Grundlage der Rechtsprechung der Gerichte auf Grund des bestehenden sogenannten positiven Rechts ist, sondern die Gerechtigkeit, die in höherm Sinne jedem das Seine geben, die in immer weiterm Umfange die Staatsangehörigen an den Fortschritten der Kultur überhaupt und ihrer Kulturarbeit insbesondre teilnehmen lassen will, die nicht
Grenzboten I 1899 60