Bedarf Deutschland einer Vergrößerung seines kolo
nialen Besitzstandes?
ie wesentliche Grundlage des Staats ist „unabhängige Macht," seine Fähigkeit, sich in der Staatengesellschaft durch eigne Kraft zu behaupten. Überall im Völkerleben kommt es darauf an, welche Macht ein Staat den andern entgegensetzen kann. Der Gang der geschichtlichen Entwicklung scheint aber darauf hinzuweisen, daß in Zukunft nur die Staaten eine Rolle spielen werden, die sich eine geuügeud große Herrschafts- und Wirtschaftssphäre auf der Erde gesichert haben. Daher die gewaltigen kolonisatorischen Bestrebungen der Engländer, Russen und Franzosen. Sie haben erkannt, daß in dem zukünftigen großen wirtschaftspolitischen Kampfe der Völker ausschlaggebend sein wird, welchen Anteil sich jedes bei der Verteilung der Welt zu verschaffen gewußt hat. Der Besitz und die rationelle wirtschaftliche Ausnutzung von Kolonien wird in den kommenden Zeiten eine wesentliche Bedingung für das Dasein der Staaten sein. Nur so ist auch die Voraussetzung gegeben für die hohe sittliche Aufgabe zivilisierter Staaten, den Völkern der Welt, die auf einer niedrigern Stnfe geistiger Entwicklung geblieben sind, die Kultur zu bringen. Ein Staat, der sein Genügen findet an dem beschränkten Dasein innerhalb seiner Landesgrenzen, ein europäischer Staat, der seine Hauptaufgabe darin sieht, nur Festlandspolitik zu treiben, muß notwendigerweise erstarren. Der Blick über das weite Meer macht frei. Es ist sittliche Pflicht eines Kulturstaates, den Grad geistiger Freiheit, den er erlangt hat, iu der Welt zu verbreiten, sein eignes Wesen unkultivierten uud halbzivilisierten Völkern aufzuprägen. Hierzu ist die Möglichkeit auf dem Wege kolonisatorischer Thätigkeit gegeben.
Grenzboten I 1889 S>