Maßgebliches und Unmaßgebliches
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Arbeitersekretäre, Karl Schirmer und der Tischler Raith, teilen mit, daß sie vom Lande seien und sehr gern auf dem Lande geblieben wären, daß aber ihre Eltern in der Meinung, es sei in der Stadt leichter, sich eine Existenz zu begründen, sie ein Gewerbe hätten lernen lassen, wie denn überhaupt die Bauern ihre Kinder in die Stadt zu bringen pflegten, weil das schmale Erbe zur Versorgung der Kinder auf dem Lande nicht hinreiche. Grcmdke, der Vertreter der Landwirtschaftskammer für die Provinz Brandenburg, sprach das große Wort gelassen aus: „Einmal haben wir den sich stetig verringernden Rest ständiger Arbeiter und ihnen gegenüber die immer zunehmende Summe von Wanderarbeitern, die der moderne landwirtschaftliche Betrieb nicht mehr entbehren kann, und auf die er je länger je mehr feine ganze Wirtschaftsführung zuzuschneiden gezwungen war, mit denen wir jetzt als mit einem ständigen Bedürfnis zu rechnen haben." Wenn das der Fall ist, dann muß auch der Staat ueu zugeschnitten werden, denn Nomaden, namentlich ausländische, sind in der bestehenden Staatsverfassung nicht vorgesehen. — Gelöst hat der Verbandstag die ländliche Arbeiterfrage freilich nicht, aber daß er sie von allen Seiten beleuchtet hat, verdient immerhin einigen Dank.
Die Brotfrage. Man hat heutzutage medizinische, chemische, technische Versuchsstationen aller Art, aber staatswirtschaftliche Versuchsstationen, wo die zahllosen volkswirtschaftlichen uud sozialpolitischen Vorschläge durchprobiert werden könnten, werden wir leider niemals haben, denn auf diesem Gebiete gilt der Satz, daß sich das, was im kleinen ganz gut möglich ist, im großen gewöhnlich als undurchführbar erweist, und die modernen Staaten sind sehr groß. Zur Lösung der Brotfrage schlägt der in den Zeitungen öfter genannte Freiherr Dr. Friedrich zu Weichs- Glon,") ein warmherziger, menschenfreundlicher Tiroler, nicht die Verstaatlichung des Getreidehaudels vor wie Kauitz, nicht die Verstaatlichung des Getreidchandels und der Brotbereitung wie der Müller Till in Brück a. d. Mur, sondern die Kvmmunalisiernng der Brotbereitung; die Gemeinden sollen — mit einer durch eine große Anleihe anfzubriugenden Staatshilfe — die Brotbereitnng übernehmen und sollen ausschließlich Mehl verwenden, das aus inländischem Getreide hergestellt ist; dadurch sollen „stabile hohe Getreidepreise bei billigem Brote" gesichert werden. Wir wollen uns nicht mit der agrarischen Einbildung herumschlagen, in der auch der übrigens keineswegs einseitig agrarische Weichs-Glon befangen ist, daß „wucherische Spekulation" die Getreidepreise drücke und dadurch die Landwirtschaft zu Grunde richte. Wir wolle» auch nicht bei dem ausführlichen Lobe der mittelalterlichen Obrigkeiten verweilen, die sich mit Brottaxen und zahllosen andern Maßregeln um die Versorgung des Volkes mit gutem Brote bemüht hätten; das Löbliche an diesen Bemühungen sind der gute Wille, das Pflichtgefühl uud die gesunden sozialen Grundsätze, die sich in solchen Maßregeln anssprechen, und wovon man allerdings so mancher der modernen Regierungen ein gleich großes Maß wünschen möchte; um den Erfolg ist es immer und überall recht schlecht bestellt gewesen. Dagegen müssen wir hervorheben, daß die Brotfrage im ersten der drei Sinne, die er ihr beilegt, gar nicht mehr vorhanden ist. Die Menschheit kann heute jederzeit soviel Brot haben, wie sie braucht und haben will; dafür haben die moderne Technik, die durch sie ins unbegrenzte gesteigerte Produktivität der Arbeit und der Welthandel gesorgt. Weichs-Glon führt gegen die Wahrheit, daß diese modernen Kräfte die Hungersnöte — wenigstens für die Kulturvölker — beseitigt
Die Brots rage und ihre Lösung, Leipzig, Duncker und Humblot, IM8.