288
Maßgebliches und Unmaßgebliches
hat sie nicht weiter berücksichtigt. Eine dahin gerichtete Kritik lag eben außerhalb des Zwecks der Abhandlung. Aber es ist doch wohl nicht ohne Interesse, zu zeigen, wie Berenson mit einer physiologisch durchaus irrigen Vorstellung operiert.
Übertragen wir das Fremdwort: „Taktilität" ins Deutsche: Belastbarkeit, so wird sofort klar, eine wie uubestimmte Eigenschaft von Gemälden Berenson statt der bestimmten Qualitäten (wie Rundung, Körperlichkeit u. dgl.), die durch das Tasten (wenn es überhaupt ein solches wäre) erkannt werden, angiebt — so unbestimmt, daß sie ohne nähere Bezeichnung gar nicht verständlich ist. Aber — abgesehen davon — ist „Taktilität," Belastbarkeit, vor allem darum verfehlt, weil es eine falsche Vorstellung des innern physiologischen Vorganges erweckt, durch den wir der Dimensionen nicht nur gemalter Gegenstände, sondern aller körperlichen Dinge inne werden. Und diese irrige Vorstellung war es auch, die Berenson zu seiner Taktilität verleitet hat. Es ist nicht der Tastsinn, der uns die Vorstellung von den Dimensionen der Dinge vermittelt, der hat nichts damit zu thun, sein Bereich ist — ganz allgemein ausgedrückt — der Widerstand des Körperlichen (die Kohttsion, der Aggregatszustand), sowie die Beschaffenheit der Oberfläche (Rauhigkeit, Glätte); es ist vielmehr lediglich der Muskelsinn, der uns durch das Maß der Bewegung, das eine bestimmte Muskelgruppe ausführen muß, um einen Gegenstand in seinen Dimensionen, d. h. in der gegenseitigen Entfernung seiner verschiednen Grenzen zu erfassen, seine Höhe, Breite nnd Tiefe kennen lehrt, indem dieses Bewegungsmaß nach dem Muskelzentrum gemeldet wird. Dieser Muskelsinn ist allen Muskeln eigen, je nach der Übung verschiednen Gruppen in verschiednem Grade, also auch den Augenmuskeln, und zwar diesen sowie den Handmuskeln am meisten.
Es ist also unrichtig, wenn Berenson behauptet: „Die Empfindung von der dritten Dimension (der Tiefe) giebt uns als Kindern nicht das Auge, sondern der Tastsinn; später vergessen wir den Ursprung und sehen auch mit den Augen dreidimensional. Diese großen florentinischen Figurenmaler regen also unsre Tastvorstelluug an, sie veranlassen uns, unsern Netzhautempfindungen »Taktil- werte« zu geben, wir erkennen Greifbares, also Wirklichkeit." Weder das Auge noch der Tastsinn giebt nns diese Empfindung, sondern eben der Muskelsinn der Augenmuskeln, wir vergessen den Ursprung der Empfindung der dritten Dimension aus dem Taftsinn nicht, weil sie nie darin ihren Ursprung hatte, uud wir verlegen diese Empfindung nicht in die Netzhaut, sondern ins Muskelzentrum. Und endlich ist es nicht nur die dritte Dimension, die die Berensonsche Taktilität, iüig.« der Mnskelsinn, vermittelt, sondern es sind alle drei Dimensionen. Dabei ist es für den physiologischen Borgang gleichgiltig, ob die Dimensionen wirklich sind oder nur scheinbar, durch die Kunst hervorgebracht.
Wollte man also statt der speziellen Bezeichnungen der Dimensionsempfinduugen als hoch, breit, tief ein diese drei zusammeufasseudes Wort, der Berensonschen Taktilität entsprechend, schaffen, so würde es etwa Mensurabilität lauten, womit, was ja thatsächlich der Fall ist, wenn auch wieder zu allgemein, ausgedrückt würde, daß ein Gemälde auch in seiner dritten, der Tiefendimension (mittels der Augenmuskeln), „gemessen" werden kann. Aber wozu das? Körperlichkeit, perspektivische Vertiefung u. dgl. sind viel bezeichnender.
Halle M. B, Freund
Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig