Beitrag 
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Seite
285
Einzelbild herunterladen
 

Maßgebliches und Unmaßgebliches

285

die Zahlungen einige Monate später stattgefunden, so würde vermutlich im Sommer eine kleinere, im Winter eine größere Zahl Arbeitsloser konstatiert worden sein." Überdies hatte gerade im Sommer 1395 die aufsteigende Konjunktur eben begonnen, die heute noch fortdauert. Wahrscheinlich würde die Zahl der längere Zeit Arbeits­losen geringer sein, als sie jetzt ist, wenn wir einen gut organisierteu Arbeitsnachweis hätten, der Angebot und Nachfrage rasch und sicher zusammenbrächte. Jetzt laufen Unzählige auf der Arbeitsuche ins Blaue hinein, und es ist reiner Znfall, wenn sie einen Platz finden.Wer den kolossalen Andrang vor dem Hause des Berliner Lokalanzeigers in den Nachmittngsstunden sieht, nnd wie jeder sich bemüht, das Blatt zu durchstiegen, um möglichst zuerst an Ort und Stelle nachzufragen, wird erkennen, daß die Nachfrage nach Arbeit zu allen Zeiten in Berlin nicht gering ist." Aber selbst ein vollkommen organisierter Arbeitsnachweis würde die periodische Arbeitslosigkeit vieler nicht beseitigen, weil ein verheirateter Arbeiter nicht in jedem beliebigen Augenblick von Berlin nach Mannheim oder umgekehrt übersiedeln kann, und weil Bebels Ansicht falsch ist, daß jeder zu jedem tauge. Wenn plötzlich die Ansdehnnng des Fahrradsports mehr Metallarbeiter fordert, dagegen die Riemerei und Sattlerei einschränkt, so können sich die überzähligen Lederarbeiter nicht sofort in Metallarbeiter verwandeln, und selbst zum Schneeschippen taugt mancher in seinem Fach z. B. als Uhrmacher, Feinmechaniker oder Bogenschreiber ganz tüchtige nicht viel. Wirklicher Arbeitermangel herrscht übrigens auch in dieser Zeit auf­steigender Konjunktur nur in einem Gewerbe, in der Landwirtschaft. Abgesehen nun aber auch von der ungesunden Agrarverfassung Ostelbiens, die diesen Maugel schon seit langem verschuldet hat, kann es nicht als ein gesunder volkswirtschaftlicher Zustand bezeichnet werden, wenn die vom Erntewagen fortgelcmfnen Bauernknechte deswegen in der Stadt Arbeit finden, weil ein hochzcitsreisendes Ehepaar auf der Fahrt von München nach Bozen für dreißig Gulden Ansichtskarten verbraucht, und wenn die Berliner Bäcker in jedem Frühjahr auf den oberschlesischen Dörfern eiu paar hundert Juugen kaufen, das Stück zu zehn bis zwanzig Mark/") die sie nach beendigterLehrzeit" auf die Straße setzen. Denn nur die weuigsten von diesen Lehrlingen" bringe» es zu einer kümmerlichen Selbständigkeit im Bäckergewerbe, uud über dreißig Jahre alte Bäckergesellen finden keine Arbeit mehr, ein Teil sucht und findet Arbeit in einem andern Beruf, ein Teil wandert ans,London wimmelt von deutschen Bäckern" (a. a. O.), ein Teil geht an den Folgen der Überanstrengung körperlich zu Grunde, und ein Teil verfällt der Vagabondage. Die Zähl der deutschen Vagabunden ist viel größer, als sie iu deu amtlicheu Nachweisungen er­scheint. Die Strenge der Polizei treibt viele über die Grenze; vor ein paar Jahren klagte man in Italien, heute klagt man schon in Palästina über deutsche Strolche. Nehmen wir noch ein andres Handwerk! DerZimmerer" sagt in der vorjährigen Nr. 3:Das übermäßige Angebot hat u. a. die Folge, daß eine säuberliche Auslese gehalten wird. Die Großstädte konsumieren nur die Blüte der mänulicheu Kraft uud stoßen die ausgemergelten Kräfte schnell wieder ab; hat einer das vierzigste Lebensjahr überschritten, dann ist er ein alter Mann, den niemand mehr mag. Entweder er muß in ein andres Gewerbe eintreten, oder zurück in die Heimat, oder untergehen." Wir entnehmen dieses Zitat der ersten Abteilung des zweiten Teiles von Schmöles Werk: Die sozialdemokratischen Gewerk­schaften in Deutschland (Jena, Gustav Fischer, 1893), dessen ersten, allgemeinen

Die schwächern zehn, die stärker» fünfzehn, die stärksten zwanzig Mark; Soziale Praxis vom Oktober ILW.