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Die Flucht vom Lande
hinzu, werde vielfach dadurch gefördert, daß man in deu Städte» iu der Wvhl- fahrtsfrage zu weit und auf dem Lande nicht weit genug gehe, daß mau den Arbeitern das Leben in den Städten, selbst wenn sie nicht arbeiten wollten oder keine Arbeit hätten, zu sehr erleichtere, daß dort Vergnügungen gebvten würden, die das Land uicht biete usw. — Vergnügungen vielfach recht bedenklicher Art. Weiter sei es ein gefährlicher Auswuchs, daß das Zuwandern zu den Jndustriebezirken, vielfach über das Maß des wirklichen Bedürfnisses weit hinausgehend, künstlich gefördert werde, sogar zum Nachteil der Arbeiter selbst, weil das übermäßige Arbeitsangebot ans die Löhne drücke. Auch das sei ein Answnchs der Freizügigkeit, daß, wenn die Industrie vorübergehend die Arbeit einstelle oder einschränke, die Arbeiter brotlos würden. „Das Recht der Freizügigkeit, so schloß er seine Erläuterungen, hat die arbeitende Bevölkerung heimatlos geinacht, von der Scholle, ans der sie geboren, erzogen und wohin sie nach ihrem Beruf gehöre, losgelöst, und meistens nicht zu ihrem Glück. Das Recht auf Freizügigkeit oder dessen Auswüchse hat zu einer unzweckmäßigen, auch den Interessen der Arbeiter widersprechenden Verteilung der Arbeitskräfte geführt."
Es war nötig, diese Ausführungen des Ministers so eingehend wiederzugeben. Sie kennzeichnen die Lage zum Erschrecken deutlich. Wenn das die „Auswüchse" siud, die man beseitigen zu sollen glaubt, was bleibt dann anders übrig, als das Recht auf Freizügigkeit selbst zu beseitigen? Da hilft kein Weuu und kein Aber. Klar und unerbittlich liegt diese Konsequenz ans der Hand, und sie wird von den Agrariern gezogen werden mit all der Energie, die ihrer das Ende niemals bedeutenden Begehrlichkeit eigen ist. Es mnß unbegreiflich erscheinen, wie die Negierung, die durch so viele Vorgänge gewitzigt sein sollte, sich selbst diese Schlinge um den Hals hat legen können. Der Strick wird angezogen werden, bis ihr der Atem ausgeht. Schon quittirt das führende Blatt der extremen Agrarier, die „Hamburger Nachrichten," dankend für die neue Blöße, die dem agrarischen Ansturm gebvten ist, mit den Wortein „Die Ursachen der läudlicheu Auswanderung nach den. Städten sind nicht zu beseitigen, sie liegen in der menschlichen Nntnr, und es kann demnach in diesem Falle nicht nach dem Rezept osWants o-mM vWMi, «zll'sotus gearbeitet werden, svndern es muß auf deni Wege der Repressiv» vorgegangen werden, da kein andrer gangbar ist." Das ist der sozialpolitische Fortschritt, den wir seit sechsundzwanzig Jahren gemacht haben. Mit ihm müssen wir rechnen als mit einer gewaltigen Macht in den bevorstehenden Kämpfen nm die wichtigsten sozialen und nationalen Interessen des deutschen Volkes.
An einen halbwegs dauernden, ja überhaupt au einen irgendwie uud für irgend jemand befriedigenden Erfolg dieses Angriffs gegen die Freizügigkeit ist nach dem Wesen nnd der ganzen geschichtlichen Entwicklung dieses Rechts gar nicht zu denken. Alles wird nur auf unfruchtbare Experimente, auf weitere Verwirrung der rechtlichen nnd sozialen Anschauungen Hinanslaufen. Wir haben in Preußen die Freizügigkeit seit 1842. Nicht der Norddeutsche Bund hat sie uns beschert. Will man von Staats und Polizei wegen die Verteilung der Arbeitskräfte zwischen Industrie und Laudwirtschaft regeln, so unternimmt man nicht etwas, was durch frühere Erfahrungen erprobt ist, sondern eine sozialistische Neuerung, die allen konservativen Grundsätzen ins Geficht schlägt. Nvt lehrt beten. Die schweren Zeiten, die die ostdeutsche Landwirtschaft heute auch iu der Arbeiterfrage durchzumachen hat, erweckten die Hoffnung, daß endlich auch in ihr eine gesündere soziale Praxis und die rechte soziale Gesinuuug zur Herrschaft gelaugcu würden. Der so vvrtreffliche Ziele sachgemäß verfolgende, sich von allen Utopien fernhaltende „Verein für Wohlfahrtspflege auf dem Lande" war wohl geeignet, diesen Erziehungsprozeß in wirksamster Weise zn